Mirador
Abenteuer im Land der Schatten-Steine 

Spiegel als Formelement
Garhard Büttenbender & Sigurd Hermes
Ein Auszug aus dem Buch "Spiegelbilder", Kunstverein Hannover, 1982
"Im Film "Mirador" ist eins der prägenden Formelemente ein maschinell rotierender Spiegel, der in unterschiedlichen Formen in das Filmbild Realitätsausschnitte einspiegelt, die sonst von der Kamera nicht erfaßt werden könnten. So entstehen über weite Passagen des Films zusammengesetzte oder zerrissene Bilder, die eine neue, "mediale" Wirklichkeit sichtbar machen.(...)" mehr...

 

Szenenfolge:

Der atemberaubende Ritt unserer beiden Helden.

Ein anmutiges Gespräch im Stall bei den Pferden.

Kurze Unterbrechung der mannigfaltigen Mühseligkeit.

Weise Plauderei in der Kutsche.

Höchst seltsame Art, über eine Zugfahrt zu reflektieren.

Das wunderwürdige Auftauchen und Verschwinden einer Schönen.

Von den befremdlichen Dingen, die unserem Helden beim Anblick des Meeres widerfuhren.

Verständige und tiefsinnige Unterhaltung, die im Hafen vorfiel.

Seltsame und fast undenkliche Abenteuer die unser Held ohne den Gebrauch von Worten berichtet.

Vom Drucken und anderen Dingen, die zu dieser Geschichte und zu keiner anderen gehören.

Aufbruch zu neuen Ufern unter vollen Segeln.

Wie unser Held einer zeitversetzten, erotischen Spiegelung zum Opfer fiel.

Was dem treuen Begleiter des Helden während der Wache auf dem Segelschiff bei der Fahrt in die Dunkelheit träumt.

Die erstaunliche Bekanntgabe des grpßen Brandes der Papierfabrik in Ulzburg.

Von den lieblichen Gesängen der schönen Sängerin, die unsere Helden betören.

Wie das Bild unserer Freunde durch ein eigentümliches Pulver festgehalten wird.

Wie eigenartig beschleunigt die Bewegungen der Sängerin erscheinen.

Ekstatischer Tanz der schönen Tänzerin.

Erleichterung in der Bewegung nach der bezauberten Erstarrung.

Von dem höchst seltsamen Abenteuer unseres Helden mit den bewegten Bildern in der Luft.

Der unverzeihliche Verdruß des tapferen Begleiters bei einem unverhofften Wiedertreffen.

Ansichten einer dunklen, unfreundlichen Stadt, welche die unangenehmsten Empfindungen auslösen.

Glücklicher Aufbruch mit der Eisenbahn zu neuen Gefilden.

Sprachlosigkeit und Blindheit durch die unglaubliche Rotation der Schattensteine.

In Lichträumen gefangen.

Das hohe erotische Abenteuer unseres Helden mit einer Schönen und einer zweiten Schönen, die jedoch beide nicht greifbar sind.

Glückliche Flucht durch das Reich der Schatten.

Ende und Erkenntnis, dass aller Abenteuer Bedingung das Licht war, das zum letztenmal ein- und ausgeschaltet wird.

 

"Mirador", im unfreundlichen Dezember 1977 in Hamburg gedreht, ist ein Film über diese Stadt: Über Don Quichotte und Sancho Pansa (Günter Tuzina, Claus Böhmler) und über manche Freunde von Nekes und Dore 0. Trüb spiegeln sich Fleete, Fabriken, Duckdalben und Industriehalden ein. 3 Monate später zogen Nekes und Dore 0. und Rona nach Mülheim um.

"Mirador" und die weggespiegelte Stadt (Nekes hat für diesen Film Spiegelmaschinen konstruiert und gebaut); ein Expeditionsbericht (eine winterliche Segelfahrt elbabwärts) und ein Dokument über Filmemacher, die eine Stadt verlassen, weil es woanders wirtlicher ist, Reflexionen, Reflexe. Von den Hamburger Filmemachern, die die Stadt in den letzten zehn Jahren zu einem Zentrum des experimentellen Films gemacht haben, blieben Helmut Herbst ("John Heartfield, Photomonteur") und die Winzentsens. Für die anderen bot sich Arbeit nur woanders. Klaus Wyborny ("Pictures of the lost world") schätzt man in den USA. Er lehrt an der Universität in Ohio. Heinz Emigholz zog nach New York, Bastian Clevé (,,San Francisco Zephyr") nach Los Angeles, Hellmuth Costard ("Der kleine Godard") und Bernd Upnmoor (für alle Filme der Nekes-Trilogie Kameramann) bekamen Lehraufträge an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin.

In Hamburg gibt es keine Ecke, wo man die experimentellen Filme kontinuierlich sehen kann. Schon immer fanden die "Hamburger" Filmemacher ihre Aufführmöglichkeiten außerhalb der Stadt - die bei ihrer Devise blieb: gar nicht um kümmern. Das experimentelle Zentrum ist kaputt. Und jetzt ist es auch hier so öde wie in der Innenstadt nach Geschäftsschluß.

Hamburg, der pikareske Bericht und die Spiegelallegorie einer trüben Wirklichkeit: für die Dogmatiker des experimentellen Films werden die Verweise auf den "Inhalt" schreckliche, ganz schreckliche Sünde sein. - Halten wir es also fest: Werner Nekes paßt nicht ins Klischee vom experimentellen Künstler, der sich in die Innerlichkeit versenkt und die routinierten Kinogänger mit Unverständlichem anödet ...

Mirador01

In "Mirador" (dem Beobachtungsposten auf der Zinne) arbeitet Nekes mit seinen selbst konstruierten Spiegelmaschinen, die vor das Objektiv der Kamera gesetzt und mit ihr verbunden sind. Die Spiegel drehen sich um diverse Achsen, sind halbdurchlässig, realisieren ein Bild in der Luft (Projektion durch einen Zweiwegspiegel auf reflektierende Spezialfolie). Spiegel, die germanischen Schattensteine, schaffen neue Wirklichkeiten, bieten neue Abenteuer. Und die "Abenteuer im Reich der Schattensteine", so der "Mirador"-Untertitel, stellen selbst den sehr realistischen Mittelpfeiler der Hamburger Köhlbrandbrücke in Frage, suggerierend, die spiegelsymmetrische - Wirklichkeit sei nicht von Bestand."

(Dietrich Kuhlbrodt, DIE ZEIT, 21.4.1979)

Der Titel kommt aus dem Spanischen und heißt militärsprachlich Beobachtungsposten. Nekes verwendet diesen Begriff doppelsinnig: Film ist Beobachtungsposten - MIRADOR als Beobachtungsposten.

„Man muß sich das Hirn als Grasfläche vorstellen", sagt Werner Nekes, "die man überqueren möchte. Die Industrie benutzt immer wieder die alten Trampelpfade des Bewußtseins. Ich will diese Pfade zerstören und neue Möglichkeiten der Überquerung suchen." ( ... )

Werner Nekes und Dore 0. mögen jedenfalls nicht glauben, daß Film bereits eine zementierte Sprache ist.

Für MIRADOR haben sie sich eine Reihe von technischen Apparaten erdacht, mit denen sie erstmals ihre Bildideen in die Praxis umsetzen können. Herbert Jeschke baute eine Reihe rotierender Spiegelmaschinen für Hand- und Batteriebetrieb mit unterschiedlich stark zurückwerfenden/durchlässigen Spiegeln. Winfried Wolf baute ihm einen Computer für den Zeittakt der Bildbelichtung. Absolut neu und bisher nie gesehen ist Nekes' Trick der "physikalischen Überblendung". Dabei ersetzt ein Bilder speicherndes, phosphoreszierendes Pulver zwischen zwei Scheiben die bekannte filmische Überblendung: die rotierende Drehmaschine zerstört das gespeicherte Bild: Szene B setzt sich gegen Szene A durch, indem beispielsweise, das alte Bild wellenförmig zerreißt.

Das maßlose Staunen erzeugt der Film mit dem frei in der Luft stehenden Bild. Diese tollste Nekes'sche Erfindung, deren Bedeutung sich bisher nur erahnen läßt, ist ein neuer Projektionsaufbau, der bewegte Filmbilder in der Luft projiziert. Und zwar ohne Leinwand, ohne Nebel oder andere Bildträger. ( ... )

Nekes schickt seine Besucher auf Abenteuerreise durch Nekes-Bilder wie Cervantes seinen Helden durch die Welt der Tücken. Die Struktur von MIRADOR (deshalb auch der spanische Titel) soll nach Erklärungen des Filmemachers an "Don Quichotte" erinnern - wie schon vor dem LAGADO an "Gullivers Reisen". Werner Nekes sieht sich wohl selbst als Don Quichotte der Medien." (Eric Oluf Jauch, Szene Hamburg, Nr. 3/1978)


Die "Trilogie des Sehens"...

 

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