Trilogie des Sehens

Mit den Filmen "LAGADO" , "MIRADOR" und "HURRYCAN" unternahm Werner Nekes 1979 eine Tournee durch mehrere Städte der Bundesrepublik Deutschland. Unabhängig davon wurden diese drei Filme im Zusammenhang als "Trilogie des Sehens" gezeigt. Das Kommunale Kino Dortmund veröffentlichte dazu folgenden Einführungstext:

"Der experimentelle Film hat es hierzulande schon immer schwer gehabt mit dem Publikum, das sich in der Regel technischen Experimenten mit dem Medium Film, der Suche nach neuen, bisher ungenutzten filmischen Ausdrucksmöglichkeiten verweigert. So wird allenfalls schön fotografierten Landschaftsaufnahmen in einem Spielfilm so etwas wie ein visueller Eigenwert zugebilligt; ansonsten haben sich die filmischen Ausdrucksmittel als getreue Erfüllungsgehilfen der nach inhaltlichen Gesichtspunkten ablaufenden Dramaturgie eines Spiel- oder Dokumentarfilms zu bescheiden.

Daß aber das Repertoire der filmischen Mittel und Sehweisen weitaus größer ist als die alltäglichen Fernseh- und Kinogewohnheiten vermuten lassen, daß auch für den "normalen" Zuschauer jenseits der Trampelpfade sinnlicher Wahrnehmung noch Entdeckungen zu machen sind, durchaus genußvolle Seh-Erlebnisse zu verzeichnen sind, kommt aber im wahrsten Sinne des Wortes erst gar nicht ins Blickfeld. Denn mit dem experimentellen Film oder dem Experimentalfilm assoziiert der normale Film- und Fernsehzuschauer gemeinhin "schwierig", "kompliziert", "unverständlich", auch "langweilig". Kurzum: Was soll das Ganze? Die Frage ist durchaus berechtigt, da er es gewohnt ist, so wie in der Literatur auch im Film jedes Bild, jede Einstellung quasi automatisch sofort auf eine Bedeutung, auf einen Inhalt hin zu befragen, die über das Gesehene hinaus auf einen übergeordneten inhaltlichen Zusammenhang zielen: Geschichte, Erzählung, Bericht, Reportage etc. Da wird es dann schwierig, sich auf einen Film einzulassen, dessen Sinn und Bedeutung nur in seinen Bildern liegt, in ihrer Zusammensetzung, in ihrer Verknüpfung, in der Demonstration dessen, was nur der Film und kein anderes Medium - an neuen sinnlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten bieten kann. Diese Möglichkeiten sind hier noch längst nicht so ausgeschöpft wie etwa beim traditionellen Spielfilm, dessen filmische Darstellungsstandards im wesentlichen seit dem Ende der Stummfilmzeit festgelegt und dem Zuschauer wohl vertraut sind. Das vorurteilslose, sozusagen unverkrampfte Sich-Einlassen auf experimentelle Filme, das nicht von vornherein um jeden Preis alles Verstehen-Wollende sind deshalb empfehlenswerte Voraussetzungen, um solche Filme mit Genuß sehen zu können. Einen guten Einstieg dazu bilden die unter dem Obertitel "Trilogie des Sehens" zusammengefaßten experimentellen Spielfilme "Lagado" "Mirador" und "Hurrycan", die der Mülheimer Filmemacher Werner Nekes in den letzten Jahren gedreht hat. Nekes, der wohl wichtigste bundesdeutsche Experimentalfilmer, demonstriert hier die hohe Schule des experimentellen Filmhandwerks. Die überraschenden Bildeffekte beruhen zum größten Teil auf einer sehr diffizilen technischen Manipulation bei der Filmaufnahme, auf gezielten Änderungen an der geläufigen Aufnahmetechnik von 24 gleichmäßig und gleichzeitig belichteten Filmbildern pro Sekunde, Dabei wird unter anderem auf fast spielerisch wirkende Weise bewußt gemacht, daß Filmen sehr viel mit der Beherrschung von Technik und Techniken zu tun hat: Der Filmemacher und sein Handwerksmaterial, die filmische Apparatur, die große Illusionsmaschine. Illusionserzeugung nicht als das Bebildern und Illustrieren von vorgegebenen Ideen und Inhalten, sondern als Entdeckung und Demonstration neuer filmischer Möglichkeiten."

 

 

Die Presse begleitete das Programm mit Kommentaren wie "Ausbruch aus den Trampelpfaden des Sehens" (Stuttgarter Zeitung, 10. 6. 1983) oder "Abenteuerliche Reise ins Reich der Ästhetik" (Ruhr Nachrichten, 30.4.1981).

Dietrich Kuhlbrodt schrieb in seiner Einleitung zu den Filmen der "Trilogie des Sehens - Das experimentelle Kino des Werner Nekes" in "DIE ZEIT", 21.4.1979:

"Werner Nekes ist in diesen Wochen unterwegs. Er zeigt seine drei neuen Experimental-Spielfilme ("Lagado", "Mirador" und "Hurrycan") in den Kommunalen Kinos. Anders als die Tournee einer, sagen wir, Musikgruppe ist die Vorführung der Nekes-Filme nicht ersetzbar. Da gibt es keine Bänder (oder Platten). Da läßt sich nichts im Fernsehen angucken oder gar mitschneiden: Während der Hörfunk (in den dritten Programmen) fleißig experimentelle Musik sendet, spart das Fernsehen in verantwortungsloser Weise den experimentellen Film aus. Deshalb lohnt sich gerade bei den Nekes-Filmen der Gang ins Kino.

Nekes war in den sechziger Jahren Professor an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Er hat seitdem, zuletzt in Vorlesungen in den USA und Kanada, seine auf der Erfindung des Kine basierende Theorie mit mathematischen Formeln, die den schöngeistigen Filmfreund befremden müssen, begründet. In der Tat revolutionieren "Lagado"' "Mirador" und "Hurrycan" das Sehen. (Wobei man nicht vergessen sollte, daß in der Geschichte der Filmrezeption bereits ein weiter Weg zurückgelegt ist - ohne daß dies das allgemeine Bewußtsein registriert hat. War es nicht eine Anstrengung, den Schnitt zu verstehen, die Großaufnahme, die amerikanische Einstellung?) Nekes kalkuliert in seinen filmtheoretischen Arbeiten neue Sehgewohnheiten ein, die in minimaler Zeit maximale Informationen bedeuten. Prototyp: die Spots im Werbefernsehen.

Die kleinste Einheit der Information, die das Auge dem Film entnimmt, hat Nekes Kine genannt: die Differenz zwischen zwei Bildfeldern. In "Hurrycan" konnte er dann demonstrieren, nachdem endlich der Bildfeld-Computer entwickelt war, wie das aussieht, was er nennt: filmische Bewegung. Und wir können registrieren, wie die Verdichtung der Information die Möglichkeiten vergrößert, seine Filme mit Spaß, Vergnügen - und auch Nutzen zu sehen.

Es ist ein Jammer, daß seine theoretischen Aussagen fast ausschließlich im Ausland veröffentlicht wurden. Es sollte sich jemand finden, der die Vorlesung übersetzt und publiziert, die Nekes an der Universität Milwaukee gehalten hat und die im November 1977 in "Afterimage" (New York) nachgedruckt ist. Das jüngste Buch über den Experimentalfilm (Dominique Noguez: "Eloge Du Cinéma Expérimental", hrsg. vom Centre Beaubourg, 1979) bringt Nekes in zwei Absätzen gleich dreimal mit Heidegger in Verbindung. Tritt man aber über die Schwelle der alten ausgedienten Lederfabrik in Mülheim an der Ruhr, in der er seit gut einem Jahr wirkt und werkt, dann teilen Werkbänke, Maschinen und allerlei praktisches Gerät augenfällig mit, daß hier einer handwerklich-erfinderisch arbeitet.

Gewiß, Nekes ist der einzige experimentelle Filmemacher, der gleichzeitig eine bedeutende Filmtheorie entwickelt und formuliert hat. In den Werkstätten der Mülheimer Lederfabrik habe ich aber endlich begriffen, warum der Werner so viele Anfragen abschlägt, was Theoretisches zu schreiben. Wie er da die Kameras umbaut (den computergesteuerten Shutter vorsetzt, der bildfeldgenau Licht abschottet) und ihnen neue oder schon vergessene alte Funktionen (Handkurbel) abgewinnt: die Kinetheorie hat er induktiv entwickelt. Die praktische Filmarbeit erlaubte ihm, Substanz in die Theorie zu bringen. Was da technologisch-mathematisch klingt, verwirrt nur den, der auf den ausgefahrenen Bahnen unserer deduktiven Filmtheorien hin- und herspekuliert."

 

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