Blickmaschinen

oder wie Bilder entstehen.

Museum für Gegenwartskunst, Siegen

23.11.2008 bis 10.05.2009


Spielzeuge für Erwachsene

Zeitgenössische Künstler arbeiten vielfach mit technisch aufwendigen Neuen Medien, mit Digitalkameras und Computern. An den Charme alter optischer Geräte zur Bilderzeugung können die neuen Technologien aber kaum heranreichen. Und die Magie ihrer Bilder fasziniert auch heute noch. Die Jahrhunderte alte Erforschung menschlicher Sehgewohnheiten, physiologischer Wahrnehmungsbedingungen und Mechanismen der Bilderzeugung hat in der Entwicklung von optischen Geräten eindrucksvolle Zeugnisse hinterlassen, die als Jahrmarktattraktionen, im Kunsthandwerk, aber auch in Technik und Wissenschaft Verwendung fanden. Der Experimentalfilmer Werner Nekes hat im Laufe vieler Jahre historische „Blickmaschinen“ gesammelt und einen einmaligen Fundus für eine Kulturgeschichte der optischen Medien geschaffen. Die Ausstellung „Blickmaschinen“, die im Museum für Gegenwartskunst vom 23.November 2008 bis 10. Mai 2009 in Siegen gezeigt wird, versammelt Objekte aus der Sammlung Werner Nekes‘ und stellt sie zeitgenössischen Arbeiten von Künstlern gegenüber, die sich ebenfalls mit optischen Experimenten beschäftigen: In raumgreifenden Installationen und Projektionen, in begehbaren Kaleidoskopen und kontemplativen Wunderkammern, in Schattenbildern, mittels bebrillter Helme und anderer „Sehgeräte“, in Guckkastenbühnen und Daumenkinogeschichten entstehen bewegte, delirierende und diskrete Bilder über Bilder. Das Gespräch zwischen der Kunsthistorikerin Nike Bätzner, eine der Kuratorinnen der Ausstellung, und Werner Nekes gibt Einblicke in ein Universum voller Illusionen.
 


Nike Bätzner: Herr Nekes, Sie sammeln Objekte, die so wunderbare Namen tragen wie Lebensrad, Wunderscheibe, Täuschungsseher – wie entstand beim Filmemacher Nekes diese Leidenschaft für alte optische Geräte?

Werner Nekes: Ich habe in den 70er Jahren in Hamburg unterrichtet und wurde gebeten, einen Aufsatz für die Hamburger Filmgespräche zu schreiben. Das war das erste Mal, dass ich mich intensiv mit der Herkunft meines Mediums beschäftigte. Bei den Überlegungen zu den Entwicklungsmöglichkeiten der filmischen Sprache wurde mir klar, dass sich in der Geschichte des Films die Differenzen zwischen den Bildern ständig vergrößerten. Außerdem fiel mir auf, dass die Zuschauer eine schnellere Sehfähigkeit entwickelt hatten, mit der sie auch größere Sprünge zwischen den Bildern verstanden. Bei meinen Recherchen für den Aufsatz stieß ich auf das Thaumatrop (die Wunderscheibe), ein optisches Spielzeug, das von dem englischen Arzt John Ayrton Paris 1825 erfunden wurde. Auf der Vorderseite einer kleinen Pappscheibe sitzt ein Vogel, auf der Rückseite ist ein Käfig abgebildet, und bei schneller Rotation der Scheibe sitzt der Vogel im Käfig. Diese Gestaltverschmelzung entspricht der größtmöglichen Informationsübertragung beim Film. So begann ich mich inspirieren zu lassen von all diesen seltsamen optischen Spielzeugen, die auch „philosophical toys“ genannt wurden, um zu sehen, inwieweit sich Prinzipien aus vorfilmischer Zeit für den Film verwenden lassen oder ob sie sogar schon verwendet werden.

N.B.: Waren diese „philosophischen Spielzeuge“ nur für Erwachsene gedacht, zwar pädagogisch wertvoll, aber eher etwas für Spezialistenclubs als für Kinder?

W.N.: Auch Erwachsene erforschen die Welt spielerisch. Diese Spielzeuge nutzen die Trägheit der Wahrnehmung aus und führen zu einer Bewusstwerdung und Popularisierung von visuellen Effekten.

N.B.: Stand für Sie immer die Entwicklungslinie zum Film im Vordergrund?

W.N.: Das war zu diesem Zeitpunkt so. Ich habe damals Experimentalfilme gedreht und versucht, die immanenten Montagemöglichkeiten des Films zu nutzen und den Film als ein Medium zu begreifen, das zwar wie ein Gedicht Inhalte transportiert, also nicht in einer linear erzählerischen Form. Ich wollte die strukturellen Bedingungen, die ebenfalls Inhalte übertragen, erforschen und den Film als ein Instrument nutzen, um bisher Unsichtbares dem Auge sichtbar zu machen.

N.B.: Ich finde es bemerkenswert, dass diese altertümlichen optischen Geräte uns heute immer noch faszinieren können, wo wir doch längst ganz andere Technologien und Geschwindigkeiten gewohnt sind. Woran liegt es, dass diese Apparate immer noch so spannend sind?

W.N.: Die Geräte sind von Hand zu bedienen, mechanisch zu manipulieren und dadurch sofort einsichtig – da ist nichts auf Platinen verlötet, so dass man den Überblick verliert. Jeder könnte das Gerät für sich nachbauen.

N.B.: Dass keine komplizierte Technologie zwischen uns und dem Gerät und seiner Funktionsweise steht, ist sicherlich ein Punkt. Auf der anderen Seite kann man dem Prozess der Bildentstehung unmittelbar beiwohnen: Man sieht, wie die Bilder sich entwickeln und bekommt den Mechanismus der Illusion unmittelbar vorgeführt. Obwohl wir die Illusion also durchschauen, erfreuen wir uns an der Verführung unserer Wahrnehmung und glauben weiter an die magische Kraft der Bilder. Sie verlieren nicht an poetischer Kraft.

W.N.: Dennoch sind viele der Verwandlungs-, Animations- und Montageprinzipien heute vergessen. Ein Beispiel wären Bienenkorbbilder, bei denen eine wabenförmige Struktur in ein Papier geschnitten wird. Dieses perforierte Papier wird dann über ein anderes Bild geklebt. Durch einen kleinen Faden, den man anzieht, erhebt sich der Bienenkorb und das darunter liegende Bild kommt zum Vorschein.

N.B.: Einige Objekte bestehen aus verschiedenen Lagen: Etwas Offensichtliches verbirgt ein Geheimnis, das im oberen Bild als Frage aufgeworfen wird. Plötzlich wird einem etwas klar. Das erinnert an die intime Begegnung mit Objekten in den alten Wunderkammern, in denen Geheimnisse und Wundersames verwahrt wurden.

W.N.: Die Wunderkammern sind die Vereinigung von allen kuriosen Objekten, die in der Welt gefunden wurden, wobei „curiosité“ damals eine andere Bedeutung hatte. Die „cabinets de curiosités“ waren die Kabinette der Neugierde, des Wissensdurstes der Wissenschaftler. All das was fremdartig war, wurde in einer solchen „Kammer“ zusammengefasst und klassifiziert. Insofern gleicht meine Sammlung diesen Wunderkammern, in denen Gerätschaften, Abbildungen, mediale Literaturen vereinigt sind und einander durchmischen. Erst später, durch Gründung der Museen, die aus den Wunderkammern hervorgegangen sind, wurden all diese Welten voneinander separiert, wobei Bibliotheken, technische Museen oder Bildergalerien entstanden.

N.B.: Es gibt in Ihrer Sammlung Objekte, die Materialien aus der Natur nutzen. Und es gibt Arbeiten, die Naturphänomene artifiziell umdeuten wie die Vexierbilder. Hier werden Landschaften anthropomorph interpretiert, d.h. die Natur dient als Anlass für ein Bild, das die menschliche Wahrnehmung täuscht: Erst allmählich erkennt man in der dargestellten Landschaft beispielsweise die Konturen eines Gesichtes. So bekommt man vorgeführt, dass man auf verschiedene Weise sehen kann.

W.N.: Die menschliche Erkenntnis richtet sich danach, was und wie sie entdecken kann, und ist fasziniert und irritiert von der Entdeckung von Mehrdeutigkeiten. So handelt es sich beispielsweise bei den Anamorphosen, den verzerrt gemalten Bildern, durchaus um philosophische Objekte, bei denen man sich der Relativität der Wahrnehmung bewusst wird. Das versteckt Abgebildete zeigt sich nur dem Eingeweihten: entweder durch einen verzerrten Blickwinkel oder (die Zuhilfenahme eines Spiegels) in einem Spiegel.

N.B.: Anamorphosen finden in ganz unterschiedlichen thematischen oder ideologischen Rahmen Anwendung. Man denke an das berühmte Gemälde Die Gesandten (1533) von Hans Holbein, wo im Vordergrund des Gemäldes ein Totenschädel (anamorphisch) anamorphotisch verzerrt dargestellt ist, uns daran erinnernd, dass wir alle sterblich sind. Man kann diesen Schädel nur von einem speziellen Standort aus erkennen.

W.N.: Die Memento Mori haben eine große Tradition. Die Verzerrung soll uns nahe bringen, dass man den richtigen Blickwinkel nutzen muss, um den Gevatter Tod erkennen zu können. Anamorphosen kommen auf mit der Entwicklung der Camera obscura. Dabei befindet sich in der Wand einer abgedunkelten Kammer ein kleines Loch, durch (das) welches das Tageslicht gebündelt einfällt und auf die gegenüberliegende Wand ein seitenverkehrtes und auf den Kopf gestelltes Bild der Außenwelt wirft. Hält man einen Malgrund in diesen Lichteinfall, kann man ihn unterschiedlich drehen und so mit der Schrägbewegung verzerrte Bilder, also Längenanamorphosen erscheinen lassen.  Leonardo da Vinci, der über die Camera obscura geforscht und mit ihr gearbeitet hat, war einer der ersten, der ein wolkenähnliches, hingestrecktes Gebilde festgehalten hat, das sich als Babykopf entpuppt.

N.B.: In der Renaissance gibt es meines Erachtens eine Parallelbewegung: Auf der einen Seite steht die Bestrebung, die äußere Welt immer realistischer auf die zweidimensionale Fläche zu bannen und mit der zentralperspektivischen Konstruktion die Illusion zu schaffen, als würde die reale Welt vor dem Bild sich im Bild fortsetzen und man könne in das Bild hineingehen. Auf der anderen Seite aber ist von vornherein bewusst, dass es sich dabei um eine Illusion handelt und daher entstehen diese anderen, verzerrten Bilder, wie die Anamorphosen. Vielleicht um zu zeigen, dass es sich bei der Zentralperspektive nicht um etwas „Natürliches“ handelt, sondern um eine Konstruktion, und dass unsere Wahrnehmung lebendig und vielfältiger ist.

W.N.: Mir geht gerade durch den Kopf, dass Leonardo derjenige war, der die Camera obscura mit den biologischen Bedingungen des Auges verglichen hat. Man begann zu dieser Zeit darüber zu reflektieren, wie sehe ich überhaupt, was ist das für ein geheimnisvoller Körper, der oberhalb unserer Nase die Welt mit zwei Augen erfasst. Es ist ja überraschend, dass Chérubin d’Orléans im 17. Jahrhundert in Antwerpen als einer der ersten sich Gedanken darüber machte, warum wir überhaupt zwei Augen haben, und vor allem, wie diese beiden Augen die Bilder der Welt zu einem kongruenten Bild verarbeiten. René Descartes beschäftigte sich ebenfalls intensiv mit den Problemen der Sinneswahrnehmung, und überall ging man in den Klöstern der Frage nach: Was kann ich als Mensch überhaupt erkennen und was ist die Realität? Platons Höhlengleichnis hat da kulturgeschichtlich den Anfang gemacht.

N.B.: Platons Höhlengleichnis stellt in Zweifel, ob das, was wir wahrnehmen, wirklich die Realität ist, oder ob die Dinge gleichsam nur Schatten der Ideen, des wahren Seienden sind. An diese große Skepsis gegenüber den sinnlichen Erscheinungen schließt sich die Frage nach den darauf gründenden möglichen Erkenntnissen an. In der Ausstellung „Blickmaschinen“ aber wollen wir gerade den Mechanismen der Illusion auf den Grund gehen und dabei die Bedingungen für die Wahrnehmung der Dinge und das Spiel der Bildenden Kunst mit der Wahrnehmung verfolgen.

W.N.: Entscheidend ist, dass man jedes beliebige Material als Inspirationsquelle nehmen kann, das Erbrochene oder das Gekleckste. Diesen Gedanken hat beispielsweise Friedrich Kaulbach in seinen Kaffeeklecksbildern aufgegriffen oder Victor Hugo in seinen Faltungen von Tuschespritzern.(Textbildern.)

N.B.: Dass man aus Flecken auf einer beliebigen Mauer ein Bild entwickeln kann, benennt Leonardo als ein notwendiges Spiel, um der künstlerischen Routine zu entrinnen.

W.N.: Erforscht wird in den künstlerischen Arbeiten, die zufällige Formen der Natur nutzen, auch die Sozialisierung der Wahrnehmung, denn man versucht immer, etwas Gegenständliches oder Vertrautes in ihnen zu finden. Das ist ein unendliches Spiel, das sich durch alle Jahrhunderte zieht, wobei zum Teil die Bildinformation gespreizt wird. Man soll erkennen, dass unterschiedliche Betrachter Unterschiedliches sehen, wie es z.B. in den Riefelbildern oder Lamellenbildern der Fall ist, die schon im 16. Jahrhundert entwickelt wurden. Deren Prinzip findet heute noch Anwendung in Werbetafeln mit Prismenwendern.

N.B.: Bei den Lamellenbildern hat man zwei bis drei feststehende Bilder, die abhängig vom Blickwinkel sichtbar werden. Bei den Vexierbildern hingegen ist eine Gleichzeitigkeit von verschiedenen Bildinterpretationsmöglichkeiten auf der Ebene eines Bildes gegeben.

W.N.: Die großen Beispiele hierfür sind Arcimboldo und Dalí, die sich sehr intensiv mit der Mehrdeutigkeit von Bildern beschäftigt haben. So wird nicht nur die zeitliche Dimension bei der Betrachtung ausgenutzt, um in das Bild einzudringen, sondern auch die Tiefendimension, das im Raum mehrfach gespeicherte Bild, das sich je nach der psychologischen Disposition des Betrachters unterschiedlich zu erkennen gibt.

N.B.: Die unterschiedliche Disposition der Betrachter führt zur Frage der kulturellen Prägung. Wir haben bisher über Traditionsstränge gesprochen, die europäisch verwurzelt sind. In Ihrer Sammlung sind aber auch Objekte aus Asien, z.B. Schattentheater. Wie verhält es sich insgesamt mit den optischen Geräten – gibt es eine spezifisch europäische Tradition oder gab es schon immer einen vielfältigen Austausch quer über den Globus?

W.N.: Ich vermute aufgrund meiner Quellen, dass z.B. die katoptrischen Anamorphosen, die sich erst in der Reflexion in Zylinder-, Pyramiden- oder Kegelspiegeln zu erkennen geben, nicht in Italien entwickelt wurden, sondern dass diese aus dem asiatischen Raum kommen. Die erste grafische Darstellung einer Zylinderanamorphose in Rom zeigt Faune, die einen Tisch umlagern und in einen Zylinderspiegel schauen, in dem der verzerrt gemalte, flach liegende Elefant dann entzerrt, aufrecht stehend erkennbar wird. Der Elefant ist ein motivischer Hinweis darauf, dass wahrscheinlich die Jesuiten das Prinzip der Anamorphose aus Asien mitgebracht haben. Man kann von einem Hin und Her der Beeinflussung ausgehen. Das Schattenspiel kam ursprünglich wohl aus dem chinesischen Raum. Die Legende sagt, dass es als eine Art Surrogat für einen Kaiser entstand, der seine Geliebte verloren hatte. Ein Magier soll ihm die Geliebte als farbige transparente Figur im Schattenspiel zurückgegeben haben. Das historische, farbige Schattenspiel breitete sich dann aus über Indien bis zur Türkei und gelangte schließlich nach Griechenland. Unser westeuropäisches Schattenspiel ist demgegenüber sehr dürftig, da es nur die schwarzen Silhouetten benutzt.

N.B.: Gibt es bestimmte Kristallisationspunkte für bestimmte Phänomene? Sind bestimmte Ideen oder Formen in manchen Gegenden stärker ausgeprägt als anderswo?

W.N.: Meine Sammlung ist nach Jahrhunderten und nach Regionen gegliedert. Für die Entwicklung der Zentralperspektive lassen sich Objekte und Bücher ab dem 15. Jahrhundert in Italien finden. Im 16. Jahrhundert sind vor allem die deutschen Jesuiten sehr aktiv in Rom, allen voran Athanasius Kircher. Der flämisch-holländische Bereich ist sehr reich im 17. Jahrhundert, besonders in Hinblick auf wissenschaftliche Erzeugnisse, wie Bücher zur Anatomie oder Astronomie. Ab dem 17. Jahrhundert kommt langsam Bewegung in das französische Geistesleben. Um 1800 werden in Frankreich und England viele optische Geräte entwickelt. Ab 1830 stoßen die deutschen Physiologen dazu, die durch ihre Bewegungsanalysen entscheidende Vorarbeiten zur Entwicklung des Films lieferten. So nutzten die Gebrüder Weber wohl erstmalig mathematische Differentialgleichungen für die Analyse der Mechanik des menschlichen Gangs, ein Verfahren, das dem ähnelt, wenn Algorithmen heute Bilder auf dem Computer erzeugen. Das von dem Belgier Joseph Antoine Ferdinand Plateau entwickelte Phenakistiskop (Täuschungsseher) und dem Österreicher Simon Stampfer gleichzeitig erfundene Stroboskop (Kurzzeitseher) führen in den USA mit der Serienphotographie von Eadweard Muybridge und in Frankreich mit der Chronophotographie von Etienne-Jules Marey direkt zum Film.

N.B.: Nach diesem Abriss über die westliche Kultur stellt sich die Frage, wie im islamischen Kulturkreis über optische Phänomene nachgedacht wurde und wie diese Überlegungen sich auf die Bildende Kunst auswirkten. Gibt es in Hinblick auf die optischen Untersuchungen Unterschiede zwischen der islamischen und der christlichen Tradition?

W.N.: Ich denke, die Kulturen haben sich zum Teil unabhängig voneinander entwickelt. Aus meinem Blickwinkel ist interessant, dass sich auch in der islamischen Tradition kalligraphische Schriften als Bilder zu erkennen geben – verwandt der europäischen Groteske im Barock, in der in den Schnörkeleien vielfältige Gestalten sichtbar werden. Der Einfluss der Lehren der Optik aus dem arabischen Raum ist nicht zu unterschätzen, sie hat den europäischen Mönchen wesentliche Denkanstöße geliefert. Man denke nur daran, wie grandios Ibn Al-Haitham (lat. Alhazen, ca. 965–1039) in seinem Hauptwerk, der „Großen Optik“ die Prinzipien der Camera obscura erklärt hat. Seine Schriften, auch wenn sie nur als Handschriften kursierten, wirkten stark auf Roger Bacon (1214–1294). Mitte des 13. Jahrhunderts übersetzte Vitello, ein polnischer Mathematiker in Erfurt, Alhazens Schriften ins Lateinische. Westeuropäische Mönche griffen die Ideen auf und fertigten als Lesehilfen erste Plankonvexlinsen. Der Buchdruck ermöglichte dann, dass eine breitere wissenschaftliche Elite von den Untersuchungen Kenntnis nehmen konnte.

N.B.: Ich möchte noch einmal auf die Aktualität Ihrer Sammlung zurück kommen. Die computergenerierten visuellen Medien liefern heute viele technisch avancierte Möglichkeiten der Bild- und Filmgestaltung. Auf der anderen Seite gibt es, und das soll unsere Ausstellung zeigen, eine ganze Reihe von Künstlern, die sich bewusst mit den „alten“ optischen Traditionen beschäftigen und verschiedene optische Apparate und Phänomene in ihre Arbeiten einbinden, so wie Eulalia Valldosera das Schattentheater, Sebastian Diaz Morales das Kaleidoskop oder Pipilotti Rist die Guckkastenbühne. Sie machen damit erneut den Prozess der Bildentstehung, des Sehens und des daran gebundenen Erkenntnisprozesses deutlich. In dieser experimentellen Aktivität liegt mein Interesse der Zusammenführung Ihrer Sammlung mit zeitgenössischer Kunst. Gibt es für Sie da spannende Momente der Begegnung mit den neuen Formulierungen tradierter Techniken?

W.N.: Wie begegnet das Pferd dem Auto? Den Begriff der Pferdestärke benutzen wir ja immer noch. Die alten Medien leben in den neuen Medien verwandelt weiter. Die visuellen Denk- und Ausdrucksstrukturen bleiben teilweise erhalten. Sie können verwandelt zu ganz neuen sinnstiftenden Einheiten werden. Ich denke, dass es ein universelles, visuelles Verstehen gibt, das sich über die Jahrhunderte entwickelt hat und das dann modifiziert in dem jeweils scheinbar Neuen weiterlebt, so wie das Theater im Film oder der Film in der Computeranimation. All die optischen Raritäten meiner Sammlung sind Möglichkeiten, die auf der Menüleiste der visuellen Bearbeitung eingetragen sind und in die Algorithmen der Computersprache übersetzt werden könnten. Die Verbindung von den scheinbar „nur“ unterhaltenden und den „rein“ wissenschaftlichen Prinzipien der Erkenntnis macht deutlich, dass wir uns in einer universellen, enzyklopädischen Grammatik befinden. Es gibt Künstler, welche die alten Techniken modifizieren und zu neuen Erkenntnissen führen, wie William Kentridge mit seinen anamorphotischen Filmprojektionen, Ludwig Wilding mit seinen Rasterbildern oder Alfons Schilling mit seinen Umkehrbrillen, die positive Räumlichkeiten in negative verwandeln. Das sind spannende Weiterführungen alter optischer Lösungen und wissenschaftlich-künstlerischer Forschung.
 

Werner Nekes, 1944 in Erfurt geboren und im Ruhrgebiet aufgewachsen, besitzt  eine der größten Sammlungen zur "Geschichte der Bilderzeugung" in ganz Europa, mit der er in einem ehemaligen Fabrikgebäude in Mülheim an der Ruhr lebt. Als Filmemacher wurde Nekes zu einer Kultfigur des Experimentalfilms. Sein epochaler, vielfach ausgezeichneter Film „Uliisses“ (1980/82) hat als eine homerische Reise durch die Geschichte des Kinos buchstäblich Filmgeschichte geschrieben.

 

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