I. Von Bildkonzepten zum Sehen

Start
Eine Figur durchschreitet ein rechteckiges Stück Wiese unzählige Male nacheinander und nimmt es durch die Bewegung des Ab- und Durchschreitens in "Besitz". Die Figur scheint einem vorbestimmten Plan zu folgen, eine Partitur zu gehen. Raumerfassung und -belebung, zu Beginn in realer, später in filmischer Zeit (durchden Schnitt).
Die schreitende Figur wird zum lebendigen Pinselstrich, zur graphischen Spur, die die Leinwand/Wiese belebt und mit verschiedenen linearen Zeichen strukturiert. Im Kopf des Betrachters entsteht so ein virtuelles Bild in der Zeit. Zugleich wird nicht nur die
Sinnsuche (nach der grundgelegten Ordnung) unterminiert, sondern zugleich auch die Frage von (sinnlicher) Wahrnehmung und Erkenntnis aufgeworfen.
Der Start des Nekesschen Filmschaffens zeigt bereits mehrere
konstitutive Elemente seiner Arbeit:
-    die konzeptuelle Basis des Films
-    die Affinität zu gleichzeitigen "Erforschungen" in der bildenden Kunst (hier vor allem "land art" und "concept art")
-    die mediumspezifische Thematisierung der apriorischen Wahrnehmungskategorien Raum und Zeit
-    die Gleichwertigkeit von Bild und Ton
-    die Funktionalisierung bzw. Entpsychologisierung der handelnden
    Figur


Gurtrug Nr. 1
26 Personen und zwei Pferde tummeln sich auf einer Wiese. Jede vollführt eine bestimmte Bewegung nach einer ihr eigenen bzw. ihr zugewiesenen "Choreographie" (vermutlich die spontan selbst gewählte). Der Gesamteindruck des auf die Szenerie hinunterschauenden Betrachters ist der einer ausgelassenen "Selbsterfahrungs"-Gruppe, die sich spontanen Bewegungslüsten hingibt. Formal betrachtet könnte man es als inszenierte Unordnung oder programmiertes Chaos bezeichnen. Diese Szene wird durch wiederkehrende Zwischenschnitte, die blitzähnlich auftauchen, zeitlich strukturiert. Sie bilden in verschiedener Beziehung einen Kontrast zur "Hauptszene": Farblich durch den Komplementärkontrast grün - orange, zeitlich durch die grösstmögliche Kürze, motivisch durch die bewegte Ruhe. Die kontrastierende Einstellung ist bewusst so konzipiert, dass ihr Bildinhalt nicht erfassbar bleibt, das Grundbild hingegen scheint, aufgrund der Einstellungsdauer leicht dechiffrierbar, ist jedoch, gezielt so angelegt, dass die Einzelbewegung der Figuren nicht "inventarisiert" und einer umfassenden Sinnstruktur subsumiert werden können (will man sich nicht mit der Feststellung eines inszenierten Chaos begnügen). Nur eine Figur vollführt eine strenge geordnete Makrobewegung. Sie zieht in einem tapsig-komisch wirkenden Laufschritt einen immergleichen Kreis um die Gruppe, scheinbar um dieser ein umfassendes Ordnungsmuster einzuverleiben: es ist der Filmemacher selbst: Durch den Kontrast der beiden Einstellungen des scheinbar Fassbaren und des Unfasslichen wird das Sehen eines bewegten Bildes (als konzeptuelle Idee) spielerisch-sinnlich thematisiert.



put-putt

Ein Braunhuhn pickt schwarze Körner von einer Glasplatte. Es wird dabei von unten gefilmt, bis die weggepickten Körner den Blick auf das Huhn freilegen. Der Vorgang wird einmal wiederholt. Danach flattert das inzwischen geköpfte Huhn durch den
Schnee, hinterlässt eine Blutspur und bleibt schliesslich tot liegen. Darauf wird es mit Schnee zugedeckt.
PUT-PUTT ist eine Metapher über Gegensätze: Anfang und Ende, Leben und Tod. "put", der Lockruf (Leben) wird zu "putt", Segment des Wortes kaputt (Tod). Wie nah die beiden Extreme beieinanderliegen, wird schon durch die Homophonie der beiden Kurztitel-Worte verdeutlicht. Auf der Tonebene wird das Verhältnis von Anfang und Ende durch das Anspielen von ca. 200 Musikanfängen bzw. -enden mitreflektiert.
Typengeschichtlich inspiriert ist diese Metapher durch eine Einstellung aus René Clairs ENTR'ACTE von 1924. In dieser wird eine junge Ballettänzerin (wie das Körner pickende Huhn) von unten durch eine Glasplatte gefilmt. Durch den Kameraschwenk nach oben wird die Tänzerin jedoch als alter bärtiger Mann identifizierbar. Auch hier liegen die Gegensätze nah beieinander. Zudem wird auf spielerische Weise die Bedeutung der Kameraposition für die Entschlüsselung des Bildinhalts veranschaulicht. Genauso reflektiert Nekes mittels seiner Daseinsmetapher über ein für seine Arbeit bedeutsames filmisches Element: die Blende. Die schwarze, von Körnern übersäte Glasplatte entspricht der geschlossenen, das durch das Wegpicken einfallende Licht der sich öffnenden Blende. Durch die Wiederholung des Vorgangs wird ein filmisches Element versinnbildlicht, das in späteren Filmen wie z.B. KELEK konstitutiv und ebenfalls einem vitalen Erlebnis (An- und Abschwellen der sexuellen Lust) gleichgesetzt wird.

Die Geschichtlichkeit dieses Filmstücks (das Schlussbild erinnert an ein Jagdstück, ein "nature-morte"-Stilleben des 17. Jahrhunderts) zeigt sich im Vergleich mit ähnlich gelagerten Bestrebungen der bildenden Kunst dieser Jahre. Die Darstellung der Daseinsmetapher mittels Verbindung von vitaler Fresslust und mystischer Blutorgie wäre ohne die Wiener Aktionisten (z.B. 0. Mühls Film ZOCK EXERCISES, 1967) in dieser provokativ-voyeuristischen Darstellungsweise nicht denkbar. Andererseits bestehen unübersehbare Bezüge zu den gestischen Visualisierungsprozessen von Concept-Künstlern (Rückriem, Ruthenbeck u.a.) wie sie unter anderem in Gerry Schums Film IDENTIFICATIONS (1971) dargestellt wurden. Nekes' Ausgangsmaterial ist wie bei diesen späteren, mehr materialbezogenen Untersuchungen über die erscheinende Wirklichkeit, ein einfacher Vorgang: ein Huhn frisst, d.h. eine flächendeckende Menge Körner wird durch den Akt des Fressens in ihrer stofflichen und formalen Beschaffenheit umgewandelt. Im Gegensatz zu den Concept-Künstlern, die bewusst nur die modellhafte Visualisierung eines komplexen Bedeutungssystems im Sinne der Demonstration einer puristischen Informationsgeste anstrebten, verknüpft Nekes die Darstellung des Vorgangs einerseits mit einer filmspezifischen Reflexion (Blende), andererseits mit einer über das sichtbare hinausgehenden symbolhaften Bedeutung (Daseinsmetapher). Auf die Affinität zur Concept-Kunst verweist zudem auch der Titel, der nichts anderes beschreibt, als was zu sehen ist: Das durch die schwarzen Körner verdeckte Huhn [schwarzhuhn], das langsam erscheinende Braunhuhn [braunhuhn], die erneute schwarze Fläche Körner [schwarzhuhn], das im Weiss des Schnees verschwindende Huhn [weisshuhn], das blutende Huhn [rothuhn] und das Schlussbild des Schnees [weiss].


Muhkuh
Kühe auf einer norddeutschen Weide glotzen neugierig bis gelangweilt 14 Minuten lang in die Kamera, d.h. auf den ebenso neugierig und gelangweilt glotzenden Betrachter. Auf der einen Seite wird das Verhältnis des Rezipienten zum Geschehen auf der Leinwand thematisiert, indem sich das Bezugsverhältnis Betrachterfigur - Leinwandfigur während des Films verändert und damit bewusst gemacht wird. Der das Objekt beobachtende Betrachter wird nämlich mit der Zeit zum beobachteten Objekt. Indem die Kühe die Rolle des Betrachters übernehmen - anstatt zu agieren schauen sie nur und muhen ab und zu - entlarven sie dessen voyeuristische Haltung. Seine Erwartungshaltung, dass auf der Leinwand etwas "geschieht", das er passiv konsumieren kann, wird unterlaufen. Der Betrachter wird in die Defensive gedrängt und selber zum Objekt, wenn er nicht fähig ist, auf seine optischen Wahrnehmungsmuster zu verzichten und sich auf das Bild "an sich" einzulassen. Auf der anderen Seite wird ein Hauptelement der Filmsprache, die Bewegung, thematisiert. Die Illusion von Bewegung des handelnden Objekts entsteht durch die minimale Differenz des Informationsgehalts zwischen den Einzelbildern. Im Gegensatz dazu entsteht filmische Bewegung durch die maximale Differenz des Informationsgehalts zwischen den Bildern, d.h. je geringer die Wahrscheinlichkeit der Bestimmung des folgenden Bildkaders ist, desto größer ist der Informationsgehalt und damit die Arbeit des Zuschauers, die Bildsprünge zu verarbeiten. In MUHKUH - und präziser noch in VIS-A-VIS - wird nicht nur die minimalste Differenz zwischen den Bildern, sondern auch die daraus entstehende minimalste Illusion von Bewegung erzeugt und damit auf das Verhältnis des Einzelbildes als Photographie und des Films als Sukzession von 24 oder 25 (hier 16) photographischen Einzelbildern in der Sekunde hingewiesen. Durch das Minimum an Verarbeitungs-Arbeit, das der Zuschauer zu leisten hat, sieht er quasi selbst in den Film hinein, "indem er das Bildfeld ertastet, indem er sich im Bild bewegt, indem Sozialisationen der Wahrnehmung auftreten..." (Nekes im Film NEKES).


Kelek
Im ersten längeren Film von Nekes mit einer Geschichte (nach Wim Wenders der Geschichte des Bewusstseins) wird in vier Bildmotiven der "Blick" thematisiert: aus einem Kellerfenster durch das Rostgitter auf eine Strasse, auf die Beine einer gehenden Frau, auf einen Geschlechtsakt (beide Male mit um den Körper gehängter Kamera) und auf eine alltägliche Straßenszene. Diese vier Einstellungen werden nur leicht variiert, wechseln sich nach einem bestimmten, aber nicht wie z.B. in JUEM-JUEM mathematisch festgelegten Rhythmus, der die Monotonie strukturiert, ab. Die bisher nicht erwähnte erste Filmeinstellung - die Kamera geht durch einen Park, schwenkt auf ein Gebüsch und scheint etwas Verborgenes zu suchen - antizipiert das Thema des Films: Den Voyeurismus des Zuschauers (Antonionis BLOW UP wird in Erinnerung gerufen), die Erwartungshaltung des Rezipienten (die Dramaturgie des Abenteuerfilms wird zitiert) und die Aufweichung der passiven Kontemplationshaltung durch Bilder, die keine Geschichte erzählen, sondern reines Sehen als Ereignis provozieren. Die erste lange Einstellung versetzt den Zuschauer bereits in die Position der schauenden Kamera. er sitzt an ihrer Stelle im Keller und glotzt vorerst neugierig aus seinem Gefängnis (der Sehkonventionen?) durch die Gitterstäbe in die Welt hinaus. Auch die gehenden Frauenbeine sind ein typisch voyeuristisches Bildmotiv, das jedoch allein schon durch die gewählte Kameraposition - die Kamera ist der Frau um die Hüften geschnallt und damit dem "Blick" der vorhergehenden Einstellung diametral entgegengesetzt (Schuss - Gegenschuss) - unmöglich mit dem voyeuristischen Männerblick identisch werden kann. Der Blick auf den Koitus hingegen setzt die Kamera nicht nur mit dem voyeuristischen (Männer) Blick sondern vorerst gar mit dem Penis des Voyeurs gleich. Doch dies ist nur eine Ebene des Films, auf der das Sehen thematisiert wird. Bedeutsamer scheinen mir die filmischen Umsetzungen von Lust und Eros. Die Parallelisierung von an- und abschwellender Lust mit dem auf- und abblendenden Blick auf eine Strasse, durch den diese sichtbar bewegt wird, die Rhythmisierung der Gegensätze von Oben und Unten, Licht und Dunkelheit, Ruhe und Bewegung, Erregung und Entspannung durch rein filmische Mittel (Schuss - Gegenschuss Blendenfahrten etc. ). Die Einstellungsabfolge wird durch das repetitive Element und die wellenförmige Struktur bestimmt. Sie bilden die strukturelle Basis zur Umsetzung der grundgelegten Idee: die Konkretisierung des Erotischen mit dem Medium inhärenten Ausdrucksmitteln. Das Element der Repetition, das zu dieser Zeit in verschiedenen Kunstsparten (z.B. minimal music, minimal art etc.) zur raison d'etre des Werks erhoben wurde, lenkt den Blick weg vom "visual fast-food" des auf einmaligen Genuss hin ausgerichteten kommerziellen Kinos auf das Sehen, das Wesenhafte des Mediums Film, hin.


KELEK ist tatsächlich Nekes' erster unmittelbar ichbezogener Film, eine Variante der therapeutischen Selbstbeobachtungen, die nicht für den Hamburger, aber für den unabhängigen Film allgemein charakteristisch sind, und vom Free Cinema ("David Holtzman's Diary") zum Beispiel bis in die Schweiz (Klaus Schönherr) und zu dem Wiener reichen, der sich selbst auch auf der Toilette filmt.
Nekes ist dabei der rhythmisierenden Methode seiner Kurzfilme treu geblieben, von denen er zusammen mit KELEK in München einige zeigte. Aber gerade dieser Vergleich machte einen Unterschied in der Wirkung deutlich: Während etwa die "Gurtrug"-Filme oder JUEM-JUEM eine geradezu saugende Intensität erreichen, ist der Effekt von KELEK ausgesprochen frustrierend. Liegt es am fehlenden Ton (er hat in den Kurzfilmen eine höchst wichtige Funktion), liegt es einfach an der Länge oder auch an der abschreckend ordinären Obszönität der Sexualbilder: Was für den Autor, möglicherweise, ein befreiender Akt im doppelten Sinne ist, wird für den Zuschauer eher zur Qual.
Rüdiger Dillgo
Die Welt, 16.12.68


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