Die schöpferische Kraft des Lichts

 

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Französisch

von Werner Nekes
erschienen in:
Lumière, transparence, opacité
Skira
200 Seiten, Paperback
ISBN 88-7624-024-1

Licht, dass durch eine kleine Öffnung in einen dunklen Raum eindringen kann, transportiert das Bild der Außenwelt in die Camera Obscura. Scharfsinnige Chinesen wie Mo Zi aus der Mathematikerschule der Mohisten erkannten vor 2500 Jahren, dass Licht, das oben blockiert wird, unten in der Kammer den Schatten wirft und umgekehrt. Da Licht sich geradlinig ausbreitet, steht es im Innenraum auf dem Kopf.

Sie waren genauer als wir, indem sie die Bilder im Innenraum als farbige Schatten bezeichneten. Deshalb ist auch die Verwendung des Begriffs Schattenkammer für die Camera Obscura richtig. Die Mohisten erklärten unter anderem auch die Beziehung zwischen einem Körper und seinem Schatten. Der Schatten eines vorbei fliegenden Vogels scheint auch in der Camera Obscura zu fliegen. Sie erkannten dies als Illusion. Denn nur für eine sehr kurze Zeitdauer blockiert der Vogel das Licht und bildet sich ab. Dieser Bildeindruck verschwindet jedoch augenblicklich, und ein neuer Schatten baut sich auf und blockiert einen weiteren Lichtstrahl.

Tatsächlich sieht man eine unendliche schnelle Folge von entstehenden und verschwindenden Schatten. Sie folgerten, ein Schatten ist immer unbeweglich Auch unsere Fähigkeit, schnell aufeinander folgende, stehende Filmbilder als eine bewegte Bildfolge wahrzunehmen, beruht auf dieser Erkenntnis. Mitte des 14. Jahrhunderts erforschte Zhao Youquin die Wechselbeziehung zwischen Form und Größe der Lochöffnung und der Entfernung der Lichtquelle in Bezug auf die Helligkeit und Größe der Abbildung.

Er fand heraus, dass die Form der Öffnung, ob rund oder eckig, keine Bedeutung für die Abbildung hat, diese ist immer rund. Die Größe der Abbildung bestimmt auch deren Helligkeit. Je kleiner das aufgefangene Bild, desto heller ist es. Je größer die Öffnung, desto heller ist es. Wir wissen heute aus der Entwicklung der Lochkamera, je kleiner das Loch, desto dunkler, aber auch schärfer, ist die Abbildung. Das photographische Negativ benötigt deshalb eine längere Belichtungszeit. Wählt man eine größere Öffnung, wird das Bild heller, aber auch unschärfer. Dies lässt mich fragen, was Unschärfe eigentlich ist. Erinnern wir uns daran, dass Giovanni Baptista della Porta in seiner Magia Naturalis um 1550 schreibt, wie durch mehrere kleine Löcher die Außenwelt vervielfältigt werden kann. Oder denken wir an die wunderbare Abbildung, die uns Mario Bettini 1646 in seiner "Apiaria" gibt. Ein sonnenbeschienener Soldat multipliziert sich in der Dunkelkammer zur Armee, da viele kleine Löcher viele Abbildungen formen. Hieraus folgere ich, dass eine größere Öffnung gleichzeitig viele Bilder in die Dunkelkammer nebeneinander hereinlässt, die einander überlagern und somit viele Konturen nebeneinander und übereinander versetzt abbilden.

Zu den Rändern hin wird das Bild dunkler, im Zentrum erreicht es die größte Helligkeit, da hier die meisten Strahlen wie bei einer Mehrfachbelichtung übereinander geschichtet sind. Mehrfach- und Langzeitbelichtung in Photographie oder Film führen zu demselben Ergebnis, dem schwarzen Negativ- oder dem weißen Positivbild. Die unendliche Überlagerung der Bilder in der Addition ihrer Lichtstärken lässt nichts mehr erkennen. Wenn wir am Tage in einem Zimmer sitzen, in dem das Licht durch große Fenster eindringt sind wir uns des Phänomens der unendlichen Überlagerung der Bilder nicht bewusst,. Was wir als hellen Raum, der durch Tageslicht erleuchtet ist, wahrnehmen, ist tatsächlich ein Raum, der unzählige Milliarden Bilder der Außenwelt enthält, die wir alle deshalb nicht sehen, weil sie in der Überlagerung die Bilder in der Helligkeit verschwinden. Durchsichtigkeit (Transparenz) und Lichtdurchlässigkeit (Transluzenz) spielen in der Geschichte der visuellen Medien schon immer eine dominante Rolle.


Das farbige Schattentheater mit ausgeschnittenen Papieren oder Tierhäuten (Pergamenten), die menschliche Figuren darstellen, hatte im China der Han Dynastie im 2. Jahrhundert vor Christi seinen Ursprung und breitete sich im Laufe der Jahrhunderte mit seiner farbigen Bilderwelt bis nach Griechenland und Nordafrika aus. Um 1630 brachten holländische Seefahrer meterhohe Laternen aus China mit. Einige Exemplare sind noch heute im Schifferhaus in Lübeck zu sehen. Ein äußerer teilweise lichtdurchlässiger Zylinder dient einem inneren Zylinder mit Bildmotiven geschmückt als Projektionsfläche. Die Drehgeschwindigkeit wird durch die Abwärme der Kerze im Zentrum bestimmt. Walfische, Schiffe, Seeungeheuer, etc. kreisen in Öffnungen des äußeren Zylinders. Perforationen und ausgeschnittene abstrakte geometrische Muster erzeugen mit Hilfe von farbigen, durchleuchteten Spiralen kaleidoskopartige Effekte. Brechungen des farbigen Lichts in kleinen Öffnungen inspirieren zum europäischen Namen für dieses Heimschauspiel wie "Chinese oder Artificial Fireworks", und"Feux Pyriques" oder "Chinesisches Feuerwerk". 

Wie später die Kameramänner für die Gebrüder Lumière, so schwärmten im 17. Jahrhundert Zeichner mit der transportablen Camera Obscura in alle Welt, um Sehenswürdigkeiten für den Guckkasten zu zeichnen. Wahrscheinlich angeregt durch die Vorführungen des Chinesischen Feuerwerks, fing man an, zu Beginn des 18. Jahrhunderts auch die Guckkastenblätter zu perforieren, sie mit Ölen transparent zu machen oder auch die Öffnungen mit farbigen Seidenstoffen zu hinterkleben. Hierdurch werden die Bilder mit Hilfe des Lichts animiert. Das Vorderlicht, das langsam mit der Hinterleuchtung wechselt, lässt mit den unterschiedlichen Lichtverhältnissen das Vergehen der Zeit erleben. Ebenfalls im 17.Jahrhundert wurden mikroskopisch fein gestochene Nadelstichbilder hergestellt. Ihr Motiv lässt sich erst in der Durchleuchtung erkennen.  Um einem Bild räumliche Tiefe zu geben, wurden in Holland um 1720 gläserne Perspektivtheater hergestellt, die in einem Guckkasten mit Vorder- und Hinterleuchtung betrachtet werden können. Bis zu sieben Glasscheiben sind auf den Vorder- und Rückseiten bemalt und sind hintereinander geschichtet in einem Holzkasten gerahmt. Diese gläsernen Perspektivtheater können als Vorläufer der heutigen Raumbilder angesehen werden. Vier dieser seltenen, fragilen Unikate konnte ich für meine Sammlung erwerben. Weitere achtzehn sind in verschiedenen holländischen Museen erhalten. Martin Engelbrecht vereinfachte in Augsburg um 1730 diese Darstellung des Raums, indem er sechs bis sieben Bögen von Kulissenbildern druckte und den dazugehörigen Bildraum der transparent sein soll, ausschnitt.

Der Durchblick auf das nächst folgende Motiv in veränderlichen Abständen ermöglicht einen räumlichen Eindruck. Das gläserne Perspektivtheater erlebte 1920 als "Stereosynthèse" durch Auguste Lumière seine Wiedergeburt im Medium der Photographie. Er stellte zehn unterschiedliche Portaits in fünf bis sieben Glasschichten photographisch her, was an tomographische Schichtenbilder erinnert. Es sind die ersten Bilder, die ohne Zerlegung des Augenblickwinkels, also ohne Hilfsmittel wie Parallaxenstereo- oder Anaglyphenbrille räumlich gesehen werden können. Um 1740 benutzte ein anonymer Zeichner in Süddeutschland die Eigenschaft der Transluzenz des Papiers, um die versteckte rückseitige Darstellung auf Papier erst in der Durchleuchtung bewusst zu artikulieren. In der linken Hälfte seiner Rätselbilder beginnt eine Geschichte, die in der Durchleuchtung der rechten Hälfte sich als Auflösung zu erkennen gibt.

Etwa fünfzig Jahre später nutzten Maler wie Philipp Hackert, Caspar David Friedrich, Thomas Gainsbourough die Durchleuchtung der Bilder für ihre Kunstwerke. Um 1799 kommen in England zahlreiche Drucke in den Handel, auf denen dargestellte Lichtquellen wie Kerzen, Fackeln, Feuer oder Mond durch eine Hintermalung transparent gemacht wurden, um die kontrastreiche Licht-Schattenwirkung für romantische Stimmungen zu nutzen. 1807 schrieb Edward Orme sein Standardwerk "An essay on transparent prints and on transparency in general“, eine Anleitung zur Herstellung transparenter Bilder für die unterschiedlichsten Verwendungsmöglichkeiten wie Fächer, Lampenschirme, Sichtblenden, etc.. In seinem Werk regte er auch ein Verfahren an, wie Papyrophanien anzufertigen sind. Man klebe Papierschichten in unterschiedlichen Dicken und Formen auf einen Bildträger. Das zu gestaltende Bild wird ähnlich wie beim Wasserzeichen erst in der Durchleuchtung erkennbar. 

In zweimal gebranntes Biskuitporzellan gebrannte Bilder kamen um 1820 auf den Markt und werden Lithophanien (durchscheinende Steine) genannt. Diese durchscheinenden Lampenschirme, Stöfchenverzierungen oder Leuchtschirme werden bis heute hergestellt und finden noch immer ihre Liebhaber.  Der Ire Robert Barker malte 1792 das erste 360 Grad Bild "London from the roof of the Albion mills". Dieser Rundblick ist die Erweiterung des Guckkastenbildes auf 360 Grad. Edward Orme regte an, diese Panoramen, die ersten visuellen Massenmedien, für deren Besuch das Publikum Eintritt zahlte, transparent zu machen und mit Lichteffekten vorzuführen. Im kleineren Maßstab mit einer zimmergroßen Bühne und einem Rollpanorama hatte dies Jacques Loutherbourg schon mit großem Erfolg um 1790 in London als Eidophusikon vorgeführt.
Jacques Louis Mandé Daguerre grenzte das zu durchleuchtende Bild wieder auf die große Guckkastenbühne ein und präsentierte in Paris seine durchleuchteten und mit akustischen Effekten versehenen Dioramenbilder.

Er verkürzte das Vergehen der Zeit mit optischen Effekten, vor und hinter den teilweise lichtdurchlässigen Leinwänden. Um 1835 brachte William Spooner drei umfangreiche Serien von Transparentbildern heraus. 1. "Transparencies", in denen die dargestellte Lichtquelle thematisiert wird. 2. "Protean views", in denen Jahreszeiten, Tageszeiten, innen und außen, etc. wechseln können. 3. In den "Transformations", wird unter anderem, wie bei der Projektion des Mikroskops oder der Laterna Magica, die projizierende Lichtquelle im Durchlicht zur Projektion gebracht. Neben der menschlichen oder tierischen Haut ist Marienglas einer der ersten transparenten Bildträger. Marienglasbilder finden sich zum Beispiel zunächst ab 1600 als Overlay-Bilder in Schraubthalern. Als Hochzeitsgeschenk offenbaren sie der Braut Herrschaftsutensilien, Bekleidung, Frisuren, ihre sozialen Positionen. Später wurde Marienglas vor allem in der indischen Kunst verwandt, um z.B. einem aquarellierten Kopf die unterschiedlichsten Körper oder Instrumente oder Bekleidungen zu verleihen.
Organische, transparente Bildträger sind die Hausenblasenbilder, die im 17. Jahrhundert vornehmlich als Klosterarbeiten hergestellt wurden. Es handelt sich um den gekochten Leim des Fisches Hause, der eingefärbt wurde und als Hauchbildchen zu religiösen Anlässen verschenkt wurde. Zur Herstellung wurde später der leichter verfügbare Knochenleim genutzt. Diese Hauchbilder haben die Eigenschaft, sich auf der Handfläche abhängig von der Hand- oder Atemwärme zu krümmen oder zu bewegen.
Schon die frühesten Laterna-Magica-Bilder wurden auf transparente Glasscheiben gemalt. In Frankreich diente später, das um 1840 erfundene Rhodoid als flexibler, rollbarer, transparenter Bildträger. Eine große Zahl von Bildern auf einem langen Bildstreifen konnte nun mit einer Kurbel sukzessiv vorgeführt werden. Der aus Celluloseacetat gewonnene Rhodoid-Film ist somit ein direkter Vorläufer des Rollfilms, der später für Photographie und Kinematographie verwendet wird. Etwa ab 1800 wurden vornehmlich in Holland, später auch in Frankreich und Deutschland, Coptographien, Megalographien, Dicoupures, oder auch "white shadows" genannte Bilder hergestellt. Kerzenlicht fällt durch negativ ausgeschnittene Papiersegmente und formt im Durchlicht, in der vergrößerten Projektion, ein Positivbild. Neben Memento Mori und Tieren, wurden vor allem Persönlichkeiten der Zeitgeschichte im heimischen Wohnzimmer in der Projektion vorgeführt. Aufrührerische Spielzeuge, jouets séditieux waren vor allem in der nachrevolutionären Zeit in Frankreich um 1810 beliebt.

Gedrechselte Köpfe, versteckt in Knäufen der Spazierstöcke, in Petschaften oder Schachfiguren, verrieten, wenn sie ihr Profil im Schattenwurf zu erkennen gaben, dem Eingeweihten die politische Einstellung des Besitzers,.  Viktorianische Peep-Eggs sind kleine Guckkästen in der Form von Eiern, die als touristische Souvenirs dem Einblickenden Sehenswürdigkeiten oder eine drehbare Montage von Bildern mit Steinchen, Muscheln oder kleinen Utensilien in der Betrachtung durch eine Linse räumlich wirksam zeigen. Für die Umhüllung wird der marmorähnliche, lichtdurchlässige Alabaster verwandt.  Eine Variante der belichteten Fotografie ist das cliché verre. Die Künstlergruppe Barbizon mit Künstlern wie Eugène Delacroix und Camille Corot experimentierte um 1853 mit opaken Beschichtungen auf Glas, um in diese Zeichnungen hineinzuritzen und mit Sonnenlicht das darunter befindliche Fotopapier zu belichten.

Direktbelichtungen der sensibilisierten photographischen Schicht ohne Photoapparat mit Gegenständen, die das Licht nicht durchlassen, werden nach dem Erfinder in Deutschland 1919, dem Maler Christian Schad, Schadographien oder in Frankreich nach Man Ray 1922, Rayographien genannt. Mehrfachbelichtungen eines Bildes, auf dem sich Bewegungsabläufe zum Teil transparent überlagern, finden sich zunächst auf den Chronophotographien von Etienne Jules Marey ab 1882. Die Zerlegung einer Bewegung in eine Reihe aufeinanderfolgender Momente führte zur Momentphotographie und später zum Film. Unzählige Entdeckungen und Erfindungen haben aus der jahrtausende alten Beschäftigung mit den Eigenschaften des Lichts unsere gegenwärtige Medienwelt entstehen lassen.

Die Camera Obscura der Mohisten ist miniaturisiert und beweglich geworden. Die kleine Öffnung kann in kürzesten Zeiteinheiten geöffnet und wieder geschlossen werden. Wenn der Bildträger in der Camera Obscura nicht weitertransportiert wird, können Mehrfach- oder Einbelichtungen aufgenommen werden, ein in der künstlerischen Avantgarde der Photographie und des Experimentalfilms zur Verdichtung des visuellen und semantischen Bildraums beeindruckend eingesetztes Stilmittel des zwanzigsten Jahrhunderts. Wenn der Standort der Camera Obscura zwischen den einzelnen Bildern wechselt, findet nicht nur eine Montage des Zeitstroms, sondern auch des Bildraumes statt. Wenn zwei kleine Öffnungen im Augenabstand mit Parallaxenprismen, Anaglyphen- oder Polfiltern versehen werden, kann das eindringende Bild vom Betrachter mit der entsprechenden Brille räumlich gesehen werden. Finden sich in bestimmten Abständen rundum Öffnungen in der Camera Obscura, kann ein zylinderförmiger Bildträger das Außenpanorama als 360' Bild im Inneren wiedergeben.

Eine Abbildung von Johann Zahn in "Oculus artificialis teledioptricus sive telescopium“ aus dem Jahre 1685 trifft unser Verständnis der uns umgebenden Bildwelten visionär. Jeder beliebige Punkt auf unserer Welt kann als Träger unzähliger Milliarden Bilder verstanden werden. Diese können heute mittels neuer Empfangs- und Wiedergabetechnologien auch sichtbar gemacht werden. Wie ehemals Mo Zi verbleibt uns die Aufgabe der Selektion, wir müssen uns entscheiden, welches Bild wir hereinlassen und sehen wollen.

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