"Schaulust" im Altonaer Museum Hamburg

„Nichts ist, wie es scheint“
von: Tilman Spreckelsen
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 05.03 2006

Optische Täuschungen waren eine Leidenschaft unserer Urgroßväter. Und in Wahrheit ein Mittel der Aufklärung, denn sie zeigten, wie Illusionen entstehen. Der ganze Erfindungsreichtum jener Zeit wird jetzt in Hamburg gezeigt.

Hilfesuchend betritt der Polizeipräfekt das Zimmer von Auguste Dupin: Ein kompromittierender Brief sei in höchsten Kreisen entwendet worden, teilt er dem Hobbydetektiv Dupin mit, man kenne zwar den Dieb, doch trotz einiger fingierter Überfälle auf den Mann habe man das Schreiben weder bei ihm noch in dessen Wohnung gefunden. Dabei habe man dort buchstäblich jedes Stäubchen untersucht, alle Bücher der Bibliothek geöffnet, jeden Tisch und jeden Stuhl aufgebohrt: "Als wir mit jedem Möbelteilchen fertig waren, untersuchten wir das Haus selbst. Wir teilten seine ganze Oberfläche in Abteilungen, die wir mit Zahlen bezeichneten, damit wir keine übergingen. Dann durchforschten wir jeden Quadratzoll des Hauses mit dem Mikroskop und untersuchten schließlich auch die beiden Nebenhäuser in der Weise."

Dupin allerdings gelingt es, den Brief dennoch zu finden, und zwar in dem bereits so gründlich durchpflügten Wohnhaus: Er erkennt, daß der Dieb "den Brief direkt unter jedermanns Nase hingelegt hat, um eben jedermann davon abzuhalten, ihn zu bemerken", heißt es in Edgar Allan Poes Erzählung "Der entwendete Brief" aus dem Jahr 1845. Zugrunde liegt ihr eine Beobachtung Poes, die er seinem Detektiv Dupin in den Mund legt: Er spricht von Gegenständen, die nicht gefunden, Lösungen, die nicht erkannt werden, eben weil sie gar zu deutlich sind und daher zu der Erwartungshaltung des Suchenden nicht entfernt passen.
Die Auffassung, daß sehen immer auch interpretieren bedeutet, hat eine lange Tradition. Entgegen stehen ihr allerdings scheinbar die mit den Jahrhunderten gewachsenen Kenntnisse über die staunenswert exakte Funktionsweise des Auges, das "tatsächlich wie eine Kamera arbeitet und ein Bild der Welt auf seiner lichtempfindlichen Netzhaut empfängt", schreibt John P. Frisby in s einem Buch "Optische Täuschungen" . Wenn man diese trügerischen Analogie zwischen individuell eingefärbter Wahrnehmung und Fotografie widerlegen will, muß man sich klarmachen, schreibt Frisby weiter, "daß das, was wir wahrnehmen, sich oft dramatisch von dem unterscheidet, was sich tatsächlich vor unseren Augen abspielt". Mit anderen Worten: Was immer wir sehen, ist ein Produkt unserer eigenen Wahrnehmung, und um das zu erkennen, hilft uns die optische Illusion, die wir als solche entlarven.
So gesehen, steht Täuschung hier also im Dienst der Aufklärung über die Begrenztheit und Formbarkeit unserer Perspektive, der Betrug am gelenkten Auge fände um der Wahrheit willen statt. Die Sammlung, die der Filmemacher Werner Nekes im Verlauf von mehr als 35 Jahren aufgebaut hat und die nun in wichtigen Teilen in Hamburg zu sehen ist, widmet sich vor allem der Bewegungsillusion. Die entsteht durch die Aneinanderreihung mehrerer Einzelbilder, die sich dabei etwa zu einer Filmsequenz, einem Daumenkino oder den Endlosschleifen von "Zoetrop" oder "Praxinoskop“, optischen Spielapparaten des neunzehnten Jahrhunderts, in deren drehbarer Trommel jeweils ein Papierstreifen mit mehreren Abbildungen befestigt war.
Tatsächlich hat Nekes Sammlung, die Tausende von Exponaten umfaßt, ihren Ausgangspunkt in solchen frühen Vorläufer moderner Kinoprojektoren, etwa in einer Reihe prächtiger Laterna magicae, einem Betrachtungsgerät für Abblätterfilme ("Mutoskop“) oder auch dem "Cinématographe Lumière" von 1896, der in seinem Holzkasten Kamera, Projektor und Kopiermaschine vereint. Um diesen Kern herum aber finden sich zahlreiche Geräte, Drucke, Kartenspiele, Schnitzereien oder sogar präparierte Steine und Blätter, die sämtlich geschaffen wurden, um das Auge zu täuschen, einen neuen Blick auf die Welt zu ermöglichen oder eine verborgene Botschaft in ein konventionelles Bild zu schmuggeln.
Zu den Bewegungsillusionen zählt etwa das "Thaumatrop“ aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert, eine beidseitig bedruckte Pappscheibe, deren Bilder sich zu einem fügen, wenn man sie nur schnell genug dreht. Gern abgebildet wurde etwa auf der einen Seite ein leerer Käfig, auf der anderen ein Vogel, der dann beim Rotieren der Scheibe in den Käfig gerät (zu den unheimlichen Exponaten der Sammlung gehört dagegen eine schlafende Frau, deren Rückseite von einem hockenden Teufel eingenommen wird - läßt man die Scheibe an gespannten Fäden herumsurren, zeigt sich der Teufel als Alpdruck auf der Schlafenden). Nekes sammelt Vexierbilder (in einer Landschaft ist ein Männerprofil verborgen; ein würdiger Herr wird, dreht man das Blatt, zum Totenkopf) und Verwandlungsbilder, gemalte Landschaften, die, von hinten unterschiedlich beleuchtet, einen Tages- oder Jahreslauf entstehen lassen. Er widmet sich Komplementärbildern und dem Nachbildeffekt, wie er in einem Interview mit der Fachzeitschrift Der Kameramann erläutert: "Wenn man, einen Punkt auf einem Bild etwa eine Minute lang fixiert, dann wehrt sich, trivial ausgedrückt, das Hirn dagegen und produziert das Gegenteil. Wenn ich ein Negativ anschaue, wird es positiv und umgekehrt. Das passiert auch mit Farbbildern, indem sie Komplementärfarben erzeugen." Für das Schwarzweißbild führt in Hamburg Greta Garbo den Beweis, indem sie plötzlich als Positiv auf einer weißen Fläche erscheint, wenn man nur lang genug auf das dort gezeigte Negativbild der Diva aus dem Jahr 1930 gestarrt hat.
Die meisten Exponate stammen aus dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, aus einer Zeit also, in der die Grundlagen für heutige Wahrnehmungstheorien geschaffen wurden, die klassisch zwischen Objekterkennung und Lokalisierung unterscheiden, und als drittes Element die sogenannte Wahrnehmungskonstanz benennen - die "Erscheinung eines Objekts bleibt gleich, obwohl sich seine Abbildung auf der Netzhaut permanent ändert", heißt es im Standardwerk "Hilgards Einführung in die Psychologie". Die optischen Illusionen, die Nekes' Exponate für den Betrachter erzeugen, zielen in zwei Richtungen: Sie stören die Objekterkennung, indem, sie bewußt ein verzerrtes oder verborgenes Bild erzeugen, das entweder mit Hilfsmitteln wie Prismen oder Linsen sein wahres Gesicht zeigt oder
nur aus einer bestimmten Perspektive, die der Betrachter einnehmen muß. Da sind etwa halbmondförmige farbige Streifen, die für das unbewaffnete Auge nicht zu interpretieren sind, aber ein Bild des Malers William Hogarth oder eine erotische Szene ergeben, wenn man einen Zylinder-Anamorphoten in die richtige Position zu der Abbildung bringt. Unter den vielen Beispielen, die Nekes für diesen optischen Trick zusammengetragen hat, sind auch Kegel- oder Pyramiden-Anamorphosen, für die entsprechend geformte Glaskörper anstelle des Glaszylinders benötigt werden. Kommt es hierbei auf das entsprechende optische Hilfsmittel
an, lassen sich andere verborgene Abbildungen lesen, wenn man etwa das Auge ganz auf die Höhe einer vertikal verzerrten Zeichnung bringt, einen Buchblock in eine bestimmte Richtung preßt oder ein sogenanntes Riefelbild, das frontal kein einheitliches Porträt ergibt, von links oder rechts betrachtet und dabei entweder Jesus oder Maria entdeckt. Besonders hübsch ist eine Kombination zweier Aquarelle in einem: Ein rundes Bild zeigt ein idyllisches Landhaus, das dem Betrachter einen Giebel zukehrt. Hebt man nun dessen Zentrum mit einem Faden an, zeigt sich, dass dieses Bild in extrem dünne Streifen zerschnitten ist, die sich am Faden wie ein Bienenkorb über einem darunter verborgenen zweiten Bild erheben. Sichtbar ist nun eine kleine Maus, die also im Bienenkorb gefangen ist (und offensichtlich auf die unwillkommenen Mitbewohner des schönen Landhauses hinweist).
Das Verhältnis von Aufklärung und Täuschung durch optische Manipulation, wie es diese Ausstellung entwirft, ist also durchaus ambivalent (und der breite Raum, den Nekes Instrumenten wie tragbaren Zeichenhilfen auf der Basis der Camera obscura widmet, unterstreicht noch einmal die erkenntnisfördernde Funktion solcher Geräte). Es war wiederum Edgar Allan Poe, der in einer Erzählung aus dem Jahr 1850 dieses Verhältnis in ein einfaches Bild brachte: Ein junger Mann besucht die Oper und verliebt sich Hals über Kopf, eben, wie er betont, "auf den ersten Blick", in eine Zuschauerin, die er in einer Loge sieht: "Wenn ich tausend Jahre alt würde, ich könnte die heftige Erregung, mit welcher ich den Kopf der Dame betrachtete, nicht vergessen. Seine Form war das Auserlesenste, was meine Augen je gesehen haben. Hier erblickte ich die verkörperte Anmut, das Ideal der Schönheit, das mir in meinen überschwenglichsten, begeistertsten Träumen vorgeschwebt hatte." Er starrt die Schöne an, wenig später starrt sie sogar zurück, er deutet eine Verbeugung an, sie errötet, es kommt zu einem Treffen, zu einer heimlichen Heirat, doch die Braut knüpft daran eine Bedingung: Der junge Mann, der aus Eitelkeit keine Brille trägt, möge sich doch eine solche fertigen lassen. Als er sie aufsetzt, erkennt er das wahre Alter seiner Braut, bei der es sich tatsächlich um seine eigene Urgroßmutter handelt und die nun, in einer grausigen Szene, die falschen Zähne und ihre Perücke ablegt. Sicherlich ist Poes Erzählung „The spectacles" vor allem eine satirische Umkehrung des Satzes "Liebe macht blind" in "Blindheit macht verliebt“, doch so sehr sie den Überschwang des jungen Mannes bestraft (der dann übrigens sehr schnell eine andere heiratet), so sehr feiert sie doch auch den als geradezu "göttlich" beschriebenen, lang ausgekosteten Moment der Liebe auf den ersten Blick.
Was gilt denn nun: der Moment der Emphase, geschuldet dem unbewaffneten Blick auf die Welt? Oder die geschärfte, von der Brille unterstützte Wahrnehmung einige Tage darauf? Die Sammlung Nekes läßt beides gelten. Und das ist vielleicht ihr größter Vorzug.

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