Lagado

"Dieser Film wendet sich an den großen Teil des Publikums, der sich immer dann begeistert, wenn ihm neue wichtige Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen vorgestellt werden, deren Anwendung zum Ziel hat, das menschliche Leid zu verringern, das menschliche Glück zu vergrößern. Hier sollen Arbeiten der Großen Akademie von Lagado vorgestellt werden, die bisher nur denen zugänglich waren, die den Aufwand nicht scheuten, die bei Richard Sympson hinterlegten Originalmanuskripte des Mr. Lemuel Gulliver einzusehen.

Waren es nun einfach Ignoranz oder Verachtung der Intelligenz der Öffentlichkeit von Seiten des Herausgebers Richard Sympson, der ihm behilflichen Herren von der Universität, der Verleger, des Lemuel Gulliver, des Lords Munodi, die Angst der Professoren und Professorinnen aus Lagado vor den Konsequenzen ihrer Forschungsergebnisse, oder war es nur ein Versäumnis Jonathan Swifts selbst, daß wesentliche Teile des Berichts über die Tätigkeit der Akademie unveröffentlicht blieben. Die Ansichten hierüber sind strittig. Die Verkettung der Gründe und Motive ist noch nicht restlos rekonstruiert.

Dieser Film versucht wichtige Informationslücken zu schließen. Er zeigt Leistungen und Verdienste der Akademie von Lagado, er will ihre Forschungen zur Verbesserung der Sprache einem breiten Publikum zugänglich machen. Er rekonstruiert Demonstrationen der Akademie, die Mr. Gulliver so sehr begeisterten, daß er diesen - wie könnte es jemals anders sein - finanzarmen Forschungszweig mit erheblichen Geldmitteln unterstützte.

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Das Ziel der Forschungen bestand darin, neue Zusammenhänge zwischen dem Gesehenen und Gehörten herzustellen, neue Sprachen zu erfinden, durch Umstellen, Hinzufügen, Weglassen und Häufen von vertrauten Sprachmaterialien und Sichtweisen zu erweiterten Aussagen über die Umwelt zu gelangen, kurz Gedanken zu ermöglichen, die bisher nicht denkbar waren. Denkt man nur einmal an die Entwicklung und Durchdringung unterschiedlicher Kommunikationssphären, den Zwiebelschichten des artikulierten Bewußtseins, dann wird eine Bewertung der Forschungsergebnisse von Lagado, die für unser heutiges Umweltverständnis immer wichtiger werden, dem aufgeschlossenen, medienkritischen Publikum nicht schwerfallen." (Aus: Duisburger Filmwoche 77, Dokumentation, S. 104)

Zuhören, zusehen, verstehen

"Um beim Schnitt präziser arbeiten zu können drehte Nekes diesen Film auf 35 mm. Sieht man jetzt diesen Film im Kino, so kann man sich kaum vorstellen, ihn woanders als nur dort sehen zu wollen. Lagado, Experimental-, Lehr- und Spielfilm, ist zugleich ein echter Kinofilm, weil so intensiv nur im Kino erfahrbar.

In etwa zwanzig Sequenzen demonstriert Nekes die Möglichkeiten und Funktionen des Originaltons und dessen Verhältnis zum bewegten Bild. In Szenen, die an die Stummfilmzeit erinnern, ersetzt er ihn durch Musik, benutzt ihn dann wieder zur atmosphärischen Untermalung oder läßt ihn zum den Bildern vorrangigen Informationsträger werden. Anders, als gewohnt, ist hier jedoch in erster Linie die Art, wie der Originalton eingesetzt wird, und erst in zweiter sein Informationsgehalt wichtig. Sprache wird auf ihre Funktion als Kommunikationsmittel reduziert: Sätze und Wörter werden bis zur Unverständlichkeit zerschnitten und nach mathematischen oder musikalischen Mustern neu zusammengesetzt; Pausen, Satz- und Wortfetzen werden zu grammatikalischen Bestandteilen einer neuen optisch/auditiven Syntax, deren Demonstration jedoch nie zum Selbstzweck wird: Eine Frau, eingegrenzt von zwei überdimensionalen Pappköpfen, sagt minutenlang immer denselben Satz, von dem nur noch Laute und Silben zu verstehen sind, der Rest wurde im Ton weggeschnitten.

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Ganz gleich, wie genau man nun darüber Bescheid weiß, wie hier technisch vorgegangen wurde, so scheint es einem doch, als könne diese Frau nur stammeln, als schnappe sie nach Sprache wie ein Fisch nach Luft. Angestrengt versucht man, sie zu verstehen, eine eigene Geschichte entsteht im Kopf des Zuschauers, und schließlich versteht er sie tatsächlich: sie redet vom Schweigen. In immer neuen Kombinationen von Bild und Ton gelingt es Nekes, dem Zuschauer auf spannende und unterhaltende Weise das Funktionieren seiner eigenen Wahrnehmung, den Weg vom Zusehen, Zuhören zum Verstehen bewußt zu machen. Mit Bildern von großem sinnlichen Reiz versetzt er den Zuschauer dann wiederum, fast wie zur Entspannung, in optischen Rausch, wo Sprache nur noch als Gedanke zu den Bildern existiert.

Der Titel des Films bezieht sich auf Lemuel Gulliver, der auf seinen Reisen die Akademie in Lagado besuchte, wo Wissenschaftler unter anderem mit einem Plan zur Abschaffung aller Wörter überhaupt beschäftigt waren, weil, wie sie meinten, "das außerordentlich gesundheitsfördernd und zeitsparend wäre". Die Sprache schafft Nekes hier nicht ab, er benutzt sie als Modell, das uns befähigt, mit- und weiterzudenken, uns unsere eigenen Geschichten zu erzählen. Damit schafft er gleichzeitig das Gefühl, im engen Kinosaal frei atmen zu können - "gesundheitsfördernde" Kinoerfahrung." (Doris Dörrie, Süddeutsche Zeitung, München,20.5.77)

Lagado" ist eine Komposition in Bild und Ton nach musikalischen Gesetzen, gekennzeichnet von überraschender Schönheit und einem feinen Humor. Nekes erforscht die Möglichkeiten des Bildes in Verbindung mit Sprache und Ton bis hin zu den Grenzen des Wahrnehmbaren. Obschon Lagado - so benannt nach der gleichnamigen Akademie in Jonathan Swifts Gullivers Reisen - sich den üblichen Sehgewohnheiten des Kinos entzieht, also Experimental- und Avantgarde-Film ist, gibt es darin keine Mühsal des Zuschauens. Keine Langeweile. Vielmehr setzt der Film eine freudige Beschwingtheit frei, wie man sie auch beim Hören von guter Musik empfindet." (Urs Jaeggi, ZOOM, 9/1977, S. 6)Lagado004

"Werner Nekes hat seinen ersten großen 35-mmFilm fertiggestellt. Ein Experimental-Spielfilm.... mit Akteuren, fragmentarischen Botschaften, mit Poesie und Strukturrigorosität, mit Spaß und allerhand Innovation. Ein großes Werk, ein vielschichtiges und ansehnliches." (Dietrich Kuhlbrodt, Frankfurter Rundschau, 22.4.1977)

Die "Trilogie des Sehens"...

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