Bildwelten

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von Werner Nekes
erschienen in: "Sehsucht. Über die Veränderung der visuellen Wahrnehmung"
Steidl Verlag, Göttingen
1995
ISBN: 3-88243-350-7

Befrage ich mich als bildender Künstler, Filmmacher oder - wie es jetzt heißt - als Medienkünstler zu meiner großen Sehnsucht, der Sehsucht, dann gestehe ich, daß ich mit großer Lust Bildwelten eräuge und gerne meine Wahrnehmung täusche. Bild an Bild reihe ich als Filmmacher aneinander und wickle diese zu einer großen Rolle um einen Kern. Raum- und Zeitdimensionen fügen sich zu einem Kontinuum, das sich beliebig wiederholbar abrollen läßt. Wie ich zum Festhalten der Bilder auf dem langen Bildstreifen Licht benötige, so benötige ich auch wieder Licht, um die Bilder beim Abwickeln auf eine Wand werfen zu können. Als Medienkünstler nutze ich zur Übertragung oder Erzeugung meiner Bildwelten ein Medium. Das Medium ist der Wortbedeutung nach der Vermittler zwischen Geisterwelt und Wirklichkeit. Der Baumeister der Geisterwelt ist der Magier, er schafft die Geisterwelt, und er hat Zugang zu ihr. Er kann bisher nicht Gesehenes sichtbar machen oder das, was man sieht, zum Verschwinden bringen. Er wird zum Beherrscher der Gesetze von Raum und Zeit, unter Nutzung der Alchimia und der Physica euriosa. Vor 400 Jahren bereiste Giovanni Baptista della Porta aus Neapel Europa und gab inszenierte Aufführungen mit der Camera obscura. Die staunenden Gesellschaften an den Fürstenhäusern erlebten in dunklen Kammern die Abbilder von Jagden, Gaukeleien, Tierprozessionen und Theateraufführungen als bewegtes Spiel des farbigen Lichts auf weißen Projektionswänden. In seiner Magia Naturalis aus dem Jahre 1588 beschreibt Porta unzählige mediale Künste. Ich zitiere einen kleinen Abschnitt aus der ersten deutschen Übersetzung von 1713, der einen Aspekt aus der Arbeit des Filmmachens, des Medienkünstlers vorweggreifend beschreibt:

„Wir aber haben erfunden
auf solche Weise zum Schreiben einen Faden zu gebrauchen.
Mann lasse zwey kleine Stecklein machen
eines so groß und so rund als das ander
das eine gebe man dem Freunde der weg reiset
das ander behalte man zu Hause:
Wann man nun schreiben will
so wickle man einen Faden um das Stäblein herum
daß er dicht aneinander gehet
und man kein Holtz sehen kan;
und wann also der Faden gleich gemacht ist
 schreibe man der Länge nach den Brief
Und was man darauf haben will:
dann wann die Stäblein etwas dicke seyn
so kann man viel Zeilen darauf bringen.
Wann man auch den Faden erst in Alaun-Wasser duncket
so fleust die Dinte nicht
sondern läst sich gar rein und sauber schreiben.
Den Faden wickle ab
und wind ihn zu einem Kneuel. Oder
wann es ja gar geheim sey soll
kann man ihn an den Saum eines Hembdes oder Schnuptuches vernehen
und dem abwesenden Freunde also schicken.
Dann wann es gleich aufgefangen wird
so kan doch auch der allerfleissigste Nachforscher nichts am Faden finden
als etliche hin und wieder zerstreute Pünctlein.
Wann aber der Freund den Faden um sein Stäblein wickelt
und nur Achtung gibt
daß diese Pünctlein oben wohl zusammen treffen
so wird er die Meinung seines Freundes leicht vernehmen können.«

Als Filmmacher arbeite auch ich mit unzähligen dieser kleinen "Pünctlein«, dem Korn des Films. Im Video oder bei den Computerbildern formen sich diese Pünktlein zu Reihen in Zeilenschriften. Die Zeilenzahl bestimmt die Bildqualität. HDTV, das hochauflösende Fernsehen, auf die Beschreibung Portas bezogen, bedeutet eine Verdopplung der Fadenwicklungen bei gleich langem Stäblein bei einer Halbierung der Fadendicke.
Wollen wir mit Freunden kommunizieren, so benötigen diese Filmprojektoren im entsprechenden Format, dasselbe Farbsystem oder Format beim Video, dieselben Betriebssysteme oder Programme in den Computern, also dieselben Stäblein. Ich könnte wohl den Faden wickeln, doch die Pünktlein fügen sich nicht recht zueinander. Ein ähnliches Verfahren wie bei Porta findet beim Fore-Edge-Painting Anwendung. Auf einen in die Schräge gepreßten Buchschnitt wird ein Bild gemalt, das nur in der Schrägpressung zu sehen ist. Das geschlossene Buch mit seinem vergoldeten Rücken verrät nichts von dem in ihm versteckten Bild. Bringe ich den Buchschnitt jedoch wieder in eine Seitenpressung, so enthüllen die vielen einzelnen Seiten wie eine Zeilenschrift in ihrer Addition wieder das Bild. Den Zusammenprall der einzelnen bildtragenden Elemente kann man als Montage bezeichnen. Es handelt sich also bei den Fäden auf dem Stäblein um eine Vertikalmontage und beim Fore-Edge um eine Horizontalmontage. Bezogen auf den Bildraum, innerhalb dessen sie stattfindet, ist sie segmental.
Beim Double-Fore-Edge bestimmt die Preßrichtung, welche der beiden unterschiedlichen Bilder sich in ihrer horizontalen Montage entschlüsseln. Beim Riefelbild werden zwei unterschiedliche Bildinformationen vertikal über mehrere sequentielle Träger gespreizt. Der Bildwinkel bestimmt die Bildinformation. Komprimiere ich drei unterschiedliche Bildansichten mit Hilfe der Vertikalmontage, erhalte ich ein Lamellenbild oder ein Trisceneorama.
Eine recht anschauliche Beschreibung dieser Montagetechniken findet sich
schon bei Daniel Schwenter in seinen Deliciae Physico-Mathematicae oder Mathemat: und Philosophische Erquickstunden:

»Die XXIII Auffgab: Eine Liebliche Perspectiv zu machen / daß an einer Tafel zweyerley oder auch dreyerley unterschiedliche Figuren erscheinen.
Die Erfindung solcher Kunst ist artlich und subtil / der Gebrauch aber sehr gemein und also beschaffen / daß nun mehr fast ein jeder Mahler damit umbgehen kan / man findet Tafeln / welche auff der rechten Hand angesehen einen Mann / auff der Lincken aber ein Weib vor das Gesicht stellen. Manche haben auff einer seiten ein Soldaten / auff der andern den Todt. Andere bringen andere Figuren. Diese Tafeln haben Falten wie ein Nürnbergisches Fälckelbrett / mögen Lateinisch genannt werden Tabulae striatae, auff die Flächen solcher Tafeln gegen der lincken Hand stehend, mahlet man eine sonderliche Figur / eine andere aber auff die Flächen gegen der rechten Hand. Nun ist gut zuerachten / wann man der Tafel zur lincken Hand stehet / daß man die Flächen zur rechten Hand sich wendend / nit sehen kan / und also bey der rechten Hand sihet man die lincken Flächen nicht /
viel weniger (was darauff gemahlet! So man aber die Tafel recht in der mitte ansihet / muß nothwendig) eine verwirrte und vermischte Figur erscheinen / weil man die Falten nahe bey der mitt völlig ansehen / und so wol die rechte als die lincke Flächen in die Augen bringen kan. Die XXIV. Auffgab. wie die Tafeln zuzurichten / auff welchen man drey unterschiedliche Bilder doch auff einmal allzeit nur eins sehen kann.
So dreyerley Figuren zu unterschiedlichen Zeiten sollen gesehen werden /
muß die Tafel eine andere Form bekommen / als die vorhergehende. Erstlich werden sie geschnidten ungefehr in der größe eines Bogen Papiers / darnach zu beeden theilen glatt abgehobelt / auff der einen und säubersten seiten leimet man dünne und schmale Leistlein nach der länge der Tafel herunter / so alle parallel und ungefehr eine von der andern 1/4 Zoll oder Daumen stehe. So nun diese Tafel gedachter massen verfertiget / und ich gern darauff zu unterschiedlichen Zeiten sehen wolte / einen Elephanten erstlich / zum andern ein Löwen / zum dritten ein Beeren. So mahlte ich den Löwen auf die mittlern Fläche der Tafel / den Elephanten auff die Leistlein zur Lincken / den Beeren aber auff die Leistlein zur rechten Hand. So nun einer der dreyen Personen so der Kunst unerfahren / einen Possen machen wolte / müßte er die gemahlte Tafel hoch in einem Gebrauch auffrichten / einen zur Lincken / den anderen in die mitte / den dritten aber zur Rechten stellen lassen / und sie fragen / was für ein Tier sie auff der Tafel gemahlet sehen? Würd der zur Lincken sagen: Er sehe einen Elephanten / der Mittler würde sagen: Nein es were ein Löw / der dritte aber sie gesehen beede nicht recht: Dann es sey ein Beer und diß ist die ganze Kunst und stehet einem
jedem frey / nach seinem belieben / die Figuren anzugeben oder zu mahlen.«

Verlangten diese Wechselbilder den vor dem Bild sich bewegenden Betrachter, so ermöglichte das Myriorama, die Vieltausendschau, die nahezu unendliche Vertikalmontage eines Panoramas durch einen aktiven, spielenden Betrachter. 1802 wurde dieses Montagespielzeug von Jean-Pierre Brés in Paris erfunden. Ein Landschaftspanorama wurde in 16 bis 24 gleich große Vertikalsegmente zerschnitten, und da die Horizontlinie dort, wo die Karten aufeinanderstoßen, immer auf derselben Höhe war, konnten die Landschaftssegmente in immer neuen Kombinationen zueinander montiert werden. Bei einem einminütigem Wechsel der Bilder würden mehr als Millionen Jahre vergehen, bis alle Möglichkeiten betrachtet werden könnten. Heute würde man ein solches Bilderspiel interaktiv nennen. Eine solch vielfältige Verästelung der Informationen bot der Stecken Portas mit seiner Fadenschrift noch nicht. Die spiralförmige Anordnung der Informationen gleicht vielmehr der Anordnung der Filmbilder in der Zeit auf der Filmrolle oder auf der Laserdisc und auf der Tonebene der Edinsonschen Tonwalze, dem Tonband, der Schallplatte oder der Compact Disc.
Das räumliche Nebeneinander der Fadenschrift Portas wird zu einem zeitlichen Nacheinander beim Film. Im gleichförmigen Rhythmus folgen im Film in einer Sekunde 24 Bilder einander. Ein Bild ersetzt das vorher Gesehene. Die Trägheit in unserer Wahrnehmung läßt sie als zusammengehörigen Bilderstrom an uns vorüberziehen. Die informationstheoretische Größe der Differenz zwischen den Bildern bestimmt den zu übermittelnden Informationsgehalt. Bei geringen Differenzen zwischen den Bildern erlebt der Betrachter die Illusion von Bewegung, bei maximalen Differenzen zwischen den Bildern lassen sich Form- und Gestaltverschmelzungen erzeugen. Das, was die Verschmelzung zweier Bilder den Betrachter sehen läßt, das „Kine“, das "dritte Bild“ im Kopf des Betrachters, ist die kleinste Einheit der filmischen Information. Diese bestimmt sich aus den Raumkoordinaten x, y und der Zeitkoordinate t. Dies sind die Parameter der filmischen Information oder die Signaldimension. Die Täuschung der filmischen Information bestimmt sich als Formel der Differenz zwischen den Bildern: K (für Kine) = (a + 1) (x, y, t) - (a) (x, y, t). Das Ereignis ist nicht das Sehen zweier Bilder. Das Ereignis ist die Täuschung.

Es folgen Ausschnitte aus meinem Dokumentarfilm Was geschah wirklich zwischen den Bildern?, Beispiele aus meiner umfangreichen Sammlung zur Frühgeschichte der Medien, zur Vorgeschichte des Films.
Zu Beispielen aus meinem experimentellen Spielfilm Uliisses:
Lichteratur, das Schreiben mit Licht.
Laserlicht durchdringt Materie.
Molekularturbulenzen des Laserlichtes im Wasser.
Laserlicht durchschießt das Filmmaterial, verbrennt es und nimmt ihm die Sehfähigkeit.
Farb-Video-Punkte, als kleinste Träger der bildlichen Information.
Scotophorus, der Dunkelheitsträger.
Visuelle Informationen gespeichert im lichttragenden Sand, sie verschwinden in der Zeit.
Eine Hommage an Johann Heinrich Schulze, den deutschen Alchimisten, der 1726 als erster Silbersalze in einer Flasche belichtete, die Silhouettenbilder jedoch noch nicht fixieren konnte.
Zu stark erhitzte Filmchemie - die gestörte Entwicklung.
Die Perspektivseher, nach einem Stich von Abraham Bosse, um 1600 Frankreich.
Die Kamera, die Licht ausstrahlt, ist ein Projektor.
Langzeitbelichtungen, die Verdichtung der Zeit im Einzelbild.
Der Licht-Persistenzkreisel von Euclid, Ptolemäus, d’Arcy.
Vertikalmontage des Bildraumes innerhalb der Farbschichten Cyan, Magenta und Yellow.
Alles, was sich nicht bewegt, erzeugt in der dreifachen Belichtung den natürlichen Farbeindruck. Alles, was sich nur auf einer Zeitachse bewegt, erhält den jeweiligen Farbeindruck der gewählten Filterung.

Simulation des Anaglyphenverfahrens in rot-grün zur Erzeugung eines räumlichen Eindrucks. Alles, was sich nicht bewegt, kann mit der Anaglyphenbrille räumlich gesehen werden; alles, was sich bewegt, muß sich im Augenabstand zu sich selbst befinden, um räumlich gesehen werden zu können. Wenn sich die Person zum Beispiel zu weit von sich selbst entfernt, dann werden aus ihrem Raumeindruck die Abbilder zweier farbiger Flächen.
Die Belichtung einer Szene im Wechsel der Filter Cyan, Magenta und Yellow, jeweils drei Bilder lang. Der computergesteuerte Shutter, eine sich öffnende und schließende Blende vor dem Objektiv, ermöglicht aufgrund der Persistenz den realen Farbeindruck. Montage der Bildräume mit einem rotierenden, halbverspiegelten Drehspiegel. Montage der Bildräume mittels der Intensität des Lichtes - wie bei den Transparenzbildern.
Montage in Analogie zum Ombro Cinema, mit Hilfe des Shutters.
Photographische Halbbilder - obere und untere Hälften - auf einer Rotationsachse.
Der thaumatropische Film - die Verschmelzung von Form und Gestalt.

 

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