Die kulturelle Bedeutung des Experimentalfilms aus politischer Sicht

von Christoph Settele

Strukturmuster und Ideologie

Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen bildet der strukturelle Vergleich von Experimentalfilm und narrativem Film. Es soll hier nicht von Filmen gesprochen werden, in denen narrative Erzählstrukturen auftauchen, dieselben aber (auf)gebrochen und somit reflektiert bzw. thematisiert werden, sondern es soll die grundsätzliche Tendenz des narrativen Films und seiner Struktur problematisiert und der grundsätzlichen Tendenz des experimentellen Films gegenübergestellt werden.

Die strukturelle Tendenz des narrativen Films legt in der Übernahme literarischer Erzählmuster und der dieser zugrunde liegenden syntagmatischen Struktur. Im traditionellen Erzählkino werden normative Erzählmuster, die sich an der Literatur und damit an der (geschriebenen wie gesprochenen) Sprache orientieren, übernommen. Die Bildsprache dieser Filme ordnet sich daher der Dramaturgie des literarischen Stoffes unter und wird zum verfügbaren visuellen Illustrationsinstrument des handlungsorientierten Erzählmusters. Das Bild als ursächlichster Ausdruck des Mediums Film verliert dadurch seine Eigenständigkeit als (verbal)sprach- unabhängiges Ausdrucksmittel. Das syntagmatische Strukturmuster, das dem ungebrochenen narrativen Film zugrunde liegt, bedingt den unauflösbaren Zusammenhang aller Einzelteile mit dem Werkganzen, die in ihrer Abhängigkeit den Sinn des Werks konstituieren. Das Problem dieses einheitlichen Werkganzen liegt darin, dass diese Struktur das lebendige Bild einer ganzheitlich erfahrbaren Lebenstotalität supponiert und in der Fiktion des Films als eingelöst darstellt. Dadurch überspielt sie die Zerrissenheit und Orientierungslosigkeit einer Gesellschaft, in der der persönliche und authentische Zugang zur Wirklichkeit u.a. durch die Konsumideologie verstellt wird. Die linear erzählte und visuell illustrierte Filmgeschichte wird ideologisch verfügbar, da sie vorspiegelt, Wirklichkeit sei als ganzheitliches und sinnvolles Gefüge erfahrbar. Die lineare Abfolge von, aus dem Werkganzen sinnvoll entschlüsselbaren Bilderfolgen, ist daher nichts anderes, als die ästhetische Reproduktion einer Ideologie, die die Erkenntnis des zerbrochenen Sinnzusammenhangs und damit die Möglichkeit seiner Überwindung, oder zumindest des Umgangs mit derselben, zu verhindern versucht. Vorspiegelung eines falschen Scheins entpuppt sich in diesem Zusammenhang als Affirmation eines bestehenden Herrschaftszusammenhangs, für den die ästhetische Bildproduktion verfügbar wird. Dies kann aber weder das Ziel der kritischen Filmproduktion, noch der filmkulturellen Vermittlung derselben sein. Denn dies hieße: Reproduktion der ästhetischen Reproduktion von Herrschaftsideologie.
Um dem Anspruch der Nicht-Verfügbarkeit gerecht zu werden, darf das Bild weder seine autonome Wirklichkeit noch seine Wahrnehmungs- und Vermittlungsfunktion aufgeben. Das heißt, das Bild kann nicht die Dinge wiedergeben (Abbild-Realismus), sondern nur deren Vermittelbarkeit durch die Möglichkeiten der Filmsprache, da das Bild der Wirklichkeit nie mit der Wirklichkeit selbst identisch sein kann.


Die filmische Wirklichkeit

Im Experimentalfilm wird Wirklichkeit nicht scheinreproduziert, sondern es wird eine eigene, durch die filmischen Mittel vermittelte Wirklichkeit produziert. Durch den Verzicht auf einen kontinuierlichen narrativen Erzählstrang mit klar definierten Bild "Illustrationen" bleibt dem Betrachter stets bewusst, dass die filmische Realität auf der Leinwand eine fiktive, künstlich hergestellte und radikal subjektiv vermittelte Welt ist.

In der bildenden Kunst, die entscheidenden Einfluss auf das Experimentalfilmschaffen ausübte, setzte die Fragmentierung der Bildwirklichkeit 1912 mit den kubistischen "papiers collés" (Picasso/Braque) ein. Das Einfügen eines realen Gegenstandes in die gemalte Bildwirklichkeit demonstrierte sinnfällig den Verlust der einheitlichen Welterfahrung. Das Prinzip von Collage und Montage des Werks aus verschiedenen vieldeutigen Wirklichkeitsfragmenten, d.h. die im Kunstwerk widergespiegelte Simultaneität des nichtkoordinierten Nebeneinanders der Erscheinungen, bildete in der Folge das strukturelle Grundmuster der historischen Avantgarde von Futurismus, Dadaismus und Surrealismus: "Moderne ist Kunst durch Mimesis ans Verhärtete und Entfremdete" (Adorno). Die Montage als das avantgardistische Prinzip der Kunst bildet die raison d'être des Mediums Film. Daher drängte sich eigentlich für die Darstellung der Fragmentierung der Wirklichkeit und des zerbrochenen Sinnzusammenhangs das Medium Film geradezu auf. Im narrativen Film wird jedoch das Grundprinzip zu verschleiern versucht, indem sich die Bildfolge einer ganzheitlichen Werkintention unterordnen lässt und Schnitt bzw. Montage aufgrund der logischen Anwendung, die den Schein von Totalität evoziert, nicht mehr als Bruch wahrgenommen werden.

Das Strukturmuster der Filme von Nekes ist daher ein paradigmatisches, d.h. die unabgeschlossene Reihe wird zum grundlegenden Konstruktionsprinzip, dem keine Sinndeutung in der Art einer erzählerischen Werkintention mehr abgerungen werden kann. Serielle Schnittschemata und das Prinzip der Wiederholung bilden weitere strukturelle Grundelemente des sich selbst thematisierenden Films. Bildproduktion in diesem Sinn heißt: Wirklichkeitsaneignung durch die Erarbeitung einer radikal subjektiven Bild-Sprache, die die Diskontinuität der Realitätserfahrung und den Erfahrungsverlust aufzeigt und sich durch den Verzicht auf Sinndeutung einem verfügbaren Kommunikationszusammenhang entzieht. Der gemeinsame Nenner der experimentellen Filmproduktion ist demnach die Suche nach einer Bildsprache mit einer eigenen "Grammatik" - Nekes' Filme können als eine Anthologie der filmischen Prinzipien verstanden werden, die die formulierten Ansprüche zu vermitteln vermag und sich nicht der normativen Ästhetik, die auf Wiederherstellung der Lebenstotalität im Schein des narrativen Films ausgerichtet ist, subsumieren lässt.


Die Verletzung der Norm

Die individuellen filmischen Ausdrucksmittel verbindet ein gemeinsames Ziel: die Infragestellung des Wirklichkeitszusammenhangs durch die Infragestellung der Wahrnehmungs- und Erkenntnisfunktionen und deren -bedingungen mittels der Verletzung der Norm. Dies bedingt den Verzicht auf das Identitätsprinzip, aus dem sich die Norm erst bildet. Das Kommunikationssystem der Identität von Bild und Bedeutung wird verlassen, indem die Bilder mittels gesellschaftlich genormter Sehkonventionen und Interpretationsparadigmas nicht mehr entschlüsselt werden können. Das entstehende Feld der Verunsicherung des Sehens und Verstehens ermöglicht jedoch einen aktiven Zugang des Betrachters, der sich die gesellschaftlich nicht vermittelte Bildwirklichkeit neu und persönlich aneignen muss. Die Verunsicherung des Betrachters im Umgang mit Bildern spiegelt in diesem Sinne die allgemeine Verunsicherung als gesellschaftliche Realität wieder. Der Verzicht auf tradierte Sinndeutung bildet die Voraussetzung, um die vom übergeordneten Ganzen emanzipierten Einzelteile als das wahrzunehmen, was sie sind: isolierte und autonome Teile einer unabgeschlossenen Reihe von Bild gewordenen Vorstellungen über eine Wirklichkeit, die als Totalität des Lebenszusammenhangs nicht mehr erfahrbar ist.

Durch die permanente Verletzung der Norm wird die scheinbare Kommunikation, die jedoch lediglich aus der Reproduktion von bereits festgelegtem Bewusst-Sein (ganzheitliche Scheinwirklichkeit als Flucht und zugleich Affirmation des status quo) besteht, durch eine wertfreie, d.h. nicht-determinierte und nicht-erklärte Bildkommunikation ersetzt. Tradierte Verhaltensweisen und Bewusstseinsstrukturen werden so elementar in Frage gestellt. Daher sind auch die Experimentalfilme von Nekes, die vorab die Bedingungen ihrer Möglichkeiten thematisieren, eminent politisch. Denn indem sich solche experimentelle Filmreflexionen jeder ideologischen Verfügbarkeit entziehen, sind sie grundlegend subversiv. Durch die grundsätzliche Infragestellung der Norm, auch der ästhetischen, ist der Film als Ware für den Markt ebenfalls nicht verfügbar, da ihm der auf Bestätigung und Identifikation konditionierte Betrachter meist verständnislos den Rücken kehrt. Infragestellung des Betrachters durch Hinterfragung der kognitiven Funktionen entspricht nicht der Norm des kommerziellen Kinos, nähert sich jedoch dem Wesen der Kunstproduktion und ihrem ideellen Wert für die Gesellschaft: Subversion der Norm, Verunsicherung, Infragestellung und Aufbrechung verhärteter Strukturen einer auf Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen konditionierten Funktion der Kunst.

Literatur:

Peter Bürger:   
Theorie der Avantgarde, Frankfurt a/M 1974


Martin Dumas:   
Funktionen der bildenden Kunst im Spätkapitalismus,
Braunschweig 1973

Jörg Huber:   
Die Entwicklung zum "Null-Bild".
Einige Gedanken zur Entleerung des Filmbilds, in. Bild für Bild,   
Hrsg. Arbeitsgemeinschaft CINEMA, 30. Jg., Zürich, 1984

Peter Weibel:   
Was ist und was soll eine Subgeschichte des Films,   
in: Hans Scheugel/Ernst Schmidt jr: Eine Subgeschichte des Films, Frankfurt a/M 1974

 

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