Nekes - Duchamp – Mantegna
TEXTUR aus kunsthistorischer Sicht
von Christoph Settele

Malerei und Film
Das Verhältnis von Malerei und Film ist seit den 10er Jahren dieses Jahrhunderts ein sehr komplexes. Die Futuristen versuchten in Anlehnung an die chronophotographischen Untersuchungen von Marey und Muybridge Bewegung mit malerischen Mitteln darzustellen. Bei den Vätern des abstrakten bzw. absoluten Films (Eggeling, Richter, Fischinger etc.), der von jeglichen dramatischen Elementen befreit und nur noch nach rein filmischen Gesetzen gestaltet wurde, lag die ästhetische Intention in der Verbindung von Malerei und Bewegung mit rein kinetischen Mitteln. Auch den vom Dadaismus beeinflussten Künstlern (Duchamp, M. Ray u.a.) diente der Film als Mittel zur Collagierung bewegter Malerei und zur Untersuchung kinästhetischer Phänomene. Die interdisziplinäre Beeinflussung und Abhängigkeit verschiedener Kunstsparten ist selten so exemplarisch nachvollziehbar wie zu Beginn unseres Jahrhunderts und ist bis heute von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Entwicklung des (experimentellen) Films. Dies ist auch am Werk von W. Nekes abzulesen. Insbesondere sein Film AMALGAM thematisiert diesen Bedeutungskomplex explizit anhand der Auseinandersetzung mit dieser historischen Zeitepoche. Daher soll im folgenden anhand des dritten Teils von AMALGAM dem Verhältnis von Nekes zur bildenden Kunst "exemplarisch" nachgespürt werden.

Duchamp
Bei einem Filmemacher, in dessen Werken die Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst stets einen wesentlichen Bestandteil bildet, darf, ja muss ein bewusster Umgang mit kunsthistorischen Vorbildern und Zitaten vorausgesetzt werden. Dass sich TEXTUR, der dritte Teil von AMALGAM, mit Duchamp auseinandersetzt, ist leicht verifizierbar. NU DESCENDANT UN ESCALIER hat er das 1912 gemalte Bild genannt. (1911 malte er die erste Fassung desselben Themas)
„Nues descendant un escalier" könnte der Titel von Nekes' Filmsequenz auch heißen. Der motivische Unterschied liegt allein in der Zahl und im Geschlecht der Akteur/Innen. Wenn Nekes in diesem offensichtlichen Zitat das Geschlecht des Sujets austauscht, ist einmal sicher der für Duchamps Ästhetik relevante Bedeutungskomplex der Androgynie angesprochen. (s. Arturo Schwarz: Marcel Duchamp, Florenz 1973, S. 6)


Und wenn er den Zahlenmystiker Duchamp zitiert, kann die Erhöhung von einer auf fünf Figuren kaum zufällig sein.
In verschiedenen mythologischen Vorstellungen ist die Zahl Fünf denn auch Symbol der stofflichen Geschlechtervereinigung (s. Johann Jakob Bachofen, Ueber die Gräbersymbolik der Alten, (1859), Ges. Werke, Bd. IV, Basel 1943ff, S. 305f) also wiederum ein versteckter Hinweis auf die dem Hermaphroditismus als ursprüngliches und wesentliches Attribut des autonomen Schöpfers - inhärente coincidentia oppositorum. Nicht unbedeutend für die Wahl von fünf Frauen dürfte zudem die Tatsache sein, dass Duchamps erstes Bild der simultanen Darstellung mehrerer Bewegungsphasen, das PORTRAIT (DULCINEE) (ebenfalls 1911), eine Frau in fünffacher Wiederholung zeigt.
In der Grundeinstellung von TEXTUR steigt die fünffach potenzierte, zu einer Figur vereinigte und somit "vollendete" nackte Frau von oben herab auf den Betrachter zu. Das alchemistische Symbol der Vollendung ist die Rose, die wiederum, als Wahrzeichen der Venus, auf Eros verweist, womit der Kreis zu Duchamp und dessen Pseudonym "Rrose Selavy" , Rose/Eros c'est la vie, fürs erste geschlossen wäre.
Doch solche konnotierenden Taschenspielereien sagen natürlich wenig über das Wesen und den Gehalt eines Werks aus, jedoch einiges darüber, was sich bei Nekes über das Zitieren des Vorbildes von diesem - bewusst oder unbewusst bleibe dahingestellt noch so miteingeschmuggelt hat.


Futurismus
Von relevanterer Bedeutung scheint mir jedoch in diesem Zusammenhang der konkrete Vergleich mit einem Objekt Duchamps. In OPTISCHES PRAEZISIONSINSTRUMENT verschmelzen die fünf räumlich hintereinander gestaffelten, mit Strichen bemalten Glasplatten durch die Drehung um die gemeinsame Achse bei einer bestimmten Geschwindigkeit zu einem zweidimensionalen Kreisgebilde. Genauso verschmelzen die fünf verschiedenen Frauenkörper in TEXTUR bei einer bestimmten Geschwindigkeit (24 B/sec.) zu einem neuen Objekt, quasi zur Idee der "Frau". Die Frauen bewegen sich zwar realzeitlich nacheinander die Treppe hinunter, werden durch die Mehrfachbelichtung jedoch in eine simultane filmische Bewegung versetzt: die Simultaneität von relativer und absoluter Bewegung.

Vor allem im Futurismus wurde diese Idee mit bildnerischen Mitteln umzusetzen versucht. Unter relativer Bewegung verstanden Marinetti und Boccioni die natürliche Fortbewegung eines Gegenstandes (Form der Bewegung), unter absoluter Bewegung die potentielle Bewegung eines Gegenstandes gemäß den Krafttendenzen der Form (Bewegung der Form).
Die von Nekes angewandte filmische Umsetzung entspricht genau der Vorstellung von Bewegung im Futurismus-
"Eine Figur steht niemals unbeweglich vor uns, sondern sie erscheint und verschwindet unaufhörlich. Durch das Beharren des Bildes auf der Netzhaut vervielfältigen sich die in Bewegung befindlichen Dinge, ändern ihre Form und folgen aufeinander wie Schwingungen im Raum."
Duchamp hat mit NU DESCENDANT UN ESCALIER im Gegensatz zu Nekes' bewegter filmischer Bewegung ein statisches Abbild der Bewegung geschaffen, das die futuristische Forderung nach der Darstellung des Wahrnehmungsereignisses "Bewegung" erstmals auf der Leinwand sinnlich erfahrbar machte:
"Bewegung ist hier eine Abstraktion. Im Grunde ist die Bewegung im Auge des Betrachters, der sie in das Bild hineinträgt."

Marey und Muybridge
Zur Darstellung des eben erörterten Bewegungs-Effekts greift Duchamp auf die photographischen Untersuchungen von Marey und Muybridge zurück. Herbert Molderings hat überzeugend nachgewiesen, dass sich hinter der Struktur von Duchamps Gemälde die nach stroboskopischen Photographien "gezeichneter, abstrakt-geometrischen Diagramme von Marey verbergen.
Duchamps Rückgriff auf die Geschichte der Photographie im allgemeinen und auf die Chronophotographie im besonderen hat seine Attraktivität für Nekes' filmische Adaption zusätzlich gesteigert. Denn Marey und Muybridge untersuchten das Bewegungsphänomen anhand des Einzelbildes in Serie, d.h. anhand der kleinsten filmischen Einheit, die für Nekes' Kine-Theorie grundlegende Bedeutung hat. Ihre Photoserien sind in diesem Zusammenhang denn auch als diagrammartiges Anschauungsmaterial über die minimale Differenz des Informationsgehalts aufeinander folgender Einzelbilder und die daraus entstehende Illusion von Bewegung und damit über Grundphänomene der filmischen Sprache zu verstehen. Genauso wenig darf bei der Auseinandersetzung mit Seurats Pointillismus im ersten und vierten Teil von AMALGAM außer acht gelassen werden, dass Seurat in LE CHAHUT erstmals Mareys Chronophotographien, zumindest in Ansätzen, bildnerisch umsetzte.Von Muybridge existieren zwei Photoserien über einen weiblichen Akt, eine Treppe herabsteigend. Dass diese Bildfolgen für Duchamp zwar nicht als Motiv, aber als direkte formale Vorlagen ungeeignet waren, scheint evident. Für Nekes jedoch könnte der motivische Einfluss nicht unbedeutend gewesen sein. Er würde auf jeden Fall einen weiteren verständlichen Grund für die Ersetzung des männlichen durch einen weiblichen Akt liefern: eine doppelte Hommage, an Duchamp und Muybridge

Mantegna
TEXTUR eröffnet noch weitere kunstgeschichtliche Bedeutungszusammenhänge. Die eine Treppe herabsteigende[n] Frau[en] ist in Untersicht (von den Füssen her) aufgenommen, sodass man vorerst eine liegende Figur zu erkennen meint. Dieses Moment des trompe l'oeil ruft einem Mantegnas Bild CHRISTO IN SCURTO (um 1500) in Erinnerung. Ein Zitat, das formal eines der rätselhaftesten Andachtsbilder assoziiert, ist die verschlüsselte Form einer Hommage, die dem zu Ehrenden kongenial erscheint. Duchamps "boite verte" und Mantegnas Salbstein als die Gralshüter des Werkgeheimnisses? (über die Bedeutung des Salbsteins siehe Andreas Prater: Mantegna Christo in scurto, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 3/1985, München 1985) Wohl kaum. Doch nur um die Hommage assoziativ zu verstärken, lohnte es nicht, Mantegna herbeizubemühen. Allein die formalen Parallelen - der purpurne Salbstein und das rötlich schimmernde Fleisch der Figuren bei Nekes, der Schleier, der bei beiden die Figuren "befällt", und die betont skulpturale bzw. filmskulpturale Behandlung derselben - lassen auf tiefer liegende Zusammenhänge schließen. Nekes versucht ja nicht einfach das Bild von Duchamp in die Filmsprache umzusetzen. Er verfährt mit dem vorliegenden Motiv durch seine Eingriffe haarsträubend fahrlässig, wodurch sich eine zusätzliche Bedeutungsebene eröffnet. Mantegna ging mit seinem Motiv genauso ketzerisch um, indem er die Heilandsgestalt entgöttlichte (vgl. Hans Jantzen: Über den gotischen Kirchenraum und andere Sätze, Berlin 1951, S. 49ff) das sakrale Thema profanierte (man kann Christus erstmals auf die Sohlen und in die Nasenlöcher schielen) und gegen die normativen ästhetischen Regeln der Renaissance verstieß. Der Titel CHRISTO IN SCURTO lässt verstehen, weswegen Mantegna (und auch Nekes) so schamlos mit seinem vorgegeben Motiv verfuhr. Der gewählte terminus technicus als Titel (Christus in Verkürzung) für eines der hehrsten ikonographischen Themen (die Beweinung Christi) zeigt, dass der Inhalt des Bildes in der Form der Darstellung (als ästhetisches Problem) und nicht in der bildnerischen Umsetzung des Themas/Motivs liegt. So zeigt auch Nekes durch seinen Verweis auf Mantegna, dass nicht die filmische Umsetzung eines bildnerischen Motivs von Duchamp, sondern die Form der Darstellung von Bewegung, wie er sie wegweisend umsetzte, Thema des Films ist.

Die Bild-Treppe
Mantegna diente die Christusfigur nur als Verweis auf den historischen Kontext, der Hauptgegenstand des Bildes und damit der eigentliche Ereignisort bilden der purpurne Stein (auf dem Christus gelagert ist) und seine Wirkung im Bildgefüge.( s. hierzu die ausführliche "Beweisführung" von A. Prater, die hier nicht wiederholt werden soll, a.a.0. S. 292f)
Bei umfassend geistesverwandter Bildauffassung müsste dem - nach der verschlüsselte Ereignisort, d.h. die essentielle Bedeutung des Films, in der Treppe liegen.
Angesichts der Grundthematik von Nekes (die Auseinandersetzung mit und die Reflexion über das Medium Film) scheint dies gar nicht so abwegig, vorausgesetzt man akzeptiert eine reichlich metaphorische Auffassung der Treppe.
Die Treppe bildet nämlich die bildhafte, alltäglich sinnlich erfahrbare Verkörperung der Filmtheorie von Nekes. Die Treppenstufen werden beim Begehen in ihrer Dualität erfahren. Mit dem einen Fuß auf der einen Stufe, ertastet der andere Fuß bereits die nächste Stufe. Die eine ist stets nur in ihrer Abhängigkeit mit der nächstfolgenden als sinnvoller Zusammenhang erfassbar. Genauso entsteht das Kine, die kleinste filmische Einheit, aus dem Zusammenprall und der gegenseitigen Beeinflussung zweier Film-Bilder. Die Kinetheorie als Fundament, auf der sich "Bilder" bewegen können wie Frauenkörper auf einer Treppe.

Als anekdotische Bemerkung muss hier noch angefügt werden, dass die Treppe zum Gästezimmer im Haus von Nekes diesen Zusammenhang noch viel expliziter vor Augen führt. Denn hier sind die Stufen halbiert und räumlich versetzt. Bei der optischen Observation des Treppengehens verschmelzen je zwei aufeinander folgende Stufen zu einer einzigen, bei physischer Folgeleistung wird der trügerische visuelle Eindruck jedoch zur Falle. Ich meine, diese optische "Schul-Treppe" für Gäste illustriert sehr schön, wie sich die metafilmische Problematik nicht nur im abgehobenen Diskurs der eigenen (kunsthistorischen) Geschichtlichkeit artikuliert, sondern auch den lebendigen Alltag eines unermüdlich nach visuellen Ausdrucksmöglichkeiten Suchenden auf witzige Art und Weise zu durchdringen vermag.

 

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