Reflektiertes Kino - Werner Nekes 'Beitrag zur filmischen Avantgarde

von Thomas Imbach

In einer Zeit, die vom Zuckerwerk der so genannten Postmoderne eingelullt wird, kommt dem Begriff der Moderne wieder eine differenziertere Stellung zu: Kunst als Ausdruck des Verlustes einer ganzheitlichen Welterfahrung wird erneut eminent politisch. Die beim Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert formulierten Probleme der Moderne - der Verlust der festen Werte - verflüchtige sich in der aufwendig bunten Inszenierung einer sich nach dem "Schöne-Neue-Welt" - Muster ausbreitenden Freizeitgesellschaft. Ohne der Kunst die Aufgabe von der Veränderung der Welt aufzubürden, ist offen sichtbar, dass die achtziger Jahre vom Kultur schaffenden nicht Arbeit, die sich von der Entfremdung zu emanzipieren versucht, sondern die Cleverness fordern, in der aktuellen "In"-Szene ein effektvolles Spektakel zünden zu können. Die Replik, dass es in der Welt der Künstler/innen schon immer so gewesen sei, verweist lediglich auf die geistige Herkunft dieser post-modernistischen Marmorfassaden-Kultur: Reflexionsstopp und feste Werte - nicht nur in der Kunst. Die Ökonomisierung und Verflachung dieser neuen Kunstgeschäftigkeit verunmöglichen zusehends eine Orientierung in der zeitgenössischen Kunstproduktion, in der, wer an radikalen Absichten festhält, „wie ein Hinterwäldler sich fühlen muss, während der Konformist nicht länger verschämt in der Gartenlaube sitzt , sondern mit dem Raketenflugzeug vorstösst ins Plusquamperfekt." (Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt am Main 1984, S. 293)

Die "neuen Medien" und die Infrastruktur der monopolisierten Medienkonzerne nagen am Kino, dem Ort, wo in Bildergeschichten vom Leben erzählt wird, sie verunmöglichen aber auch die Weiterentwicklung des seit dem Beginn der Filmgeschichte von den ökonomischen Strukturen an den Rand gedrängten filmkulturellen Prozesses. "Der Film zersplittert sich in Segmente einer zielgruppenstrategisch bedienten Freizeitgestaltung." (Hans Ulrich Reck in: Wider das Unverbindliche / Film, Kino und politische Öffentlichkeit. Cinema 31. Jg., Zürich 1985, S. 11)

Heutige Kinoproduktionen - einschließlich die so genannten Studiofilme - unterwerfen sich in ihrer Bildsprache mehrheitlich der Struktur der verbalen Sprache. In der linear erzählten und Wirklichkeit vorspiegelnden Filmhandlung verliert das Bild an Gewicht; somit seine Wahrnehmungs- und Vermittlungsfunktion und wird zum entleerten Bild. Es entsteht eine unüberbrückbare Kluft zwischen einer formal aufwendigen Inszenierung und der inhaltlosen, dennoch ins Zentrum drängenden Rahmenhandlung.
Gegen diese Tendenz geht der Mülheimer Filmmacher - eben nicht Filme-Macher - Werner Nekes an. Bereits seit 20 Jahren arbeitet er an der strukturellen Erweiterung der Filmsprache. Sein bisheriges Werk ist ein von Durchhaltewillen geprägter Versuch, die literarische Sprachfunktion des Films durch eine genuin visuelle zu ersetzen. Bezeichnenderweise kam Nekes von der bildenden Kunst zum Film und viele seiner Werke sind in engem Zusammenhang mit dem Pointillismus, Futurismus und Kubismus zu sehen.

New American Cinema
Die frühen Filme von Nekes Mitte der sechziger Jahre waren beeinflusst vom "New American Cinema", das damals in Europa Einfluß gewann - wie Nekes in einem Gespräch erwähnt, zunächst nur indirekt durch Artikel von Stan Brakhage in der Zeitschrift "Film Culture". Die eigentliche Rezeption der Filme von Jonas Mekas, Kenneth Anger, Gregory Markopoulos, Stan Brakhage u.a. setzte sich in Europa erst in den siebziger Jahren durch - in Zusammenhang mit dem 4. Internationalen Experimentalfilmwettbewerb 1968 in Knokke und der 1974 von Annette Michelson organisierten Retrospektive des "Underground Film" in Montreux. Dem "nicht narrativen Kino", wie es vor allem in den USA bezeichnet wird, waren das "Primat des Visuellen" und der autobiographische Zugang zum Medium gemeinsam. In der von Jonas Mekas gegründeten Zeitschrift "Film Culture" wehrte sich eine breite Gruppe vor unabhängigen Filmemachern - unter ihnen solche, die heute in Hollywood "erfolgreich" arbeiten - gegen den etablierten Film der ganzen Weit: "Er ist moralisch kaputt, ästhetisch überholt, thematisch oberflächlich und temperamentlos. ( ... ) Gerade die Glätte der Ausführung erweist sich als Perversion, welche die falsche Thematik und den Mangel an Stil und Sensibilität verdecken soll.“ (Manifest der "New American Cinema Group" in Film Culture, 28.9.1960, zitiert nach: Ulrich Gregor, Geschichte des Films, Hamburg 1983, Bd. 4, S. 549)

Das zitierte Manifest der "New American Cinema Group" enthielt auch praktische Forderungen: die 1962 in New York gegründete "Filmmakers' Cooperative" wurde weltweit zum Vorbild einer nichtkommerziellen Verleihorganisation. 1968 war Nekes Mitbegründer der Hamburger Filmmacher-Cooperative, die wesentlich zur Verbreitung des "Anderen Kinos" in der BRD beigetragen hat. Die von Nekes erwähnten Artikel Stan Brakhages beschreiben ein Modell von visionärem Kino, das auf drei Ebenen der Vision beruht: eine ungeordnete Flut von Eindrücken drängt ständig auf das Auge ein; Erinnerungen und Phantasien, die als Bilder das "innere Kino des Gehirns" ausmachen und schließlich die Farben und Formen, die man mit geschlossenen Augen sieht. ("Schliess deine Augen und schau." (James Joyce, Ulysses, Frankfurt am Main 1975, S. 53)
In "Metaphors on Vision" sagt Brakhage: "Man stelle sich ein Auge vor, das nicht durch die von Menschen geschaffenen Gesetze der Perspektive gelenkt wird, ein von kompositorischer Logik nicht beeinflusstes Auge, ein Auge, das niemandem verpflichtet ist, ein Auge, das stattdessen jedes Objekt, das ihm im Leben begegnet, durch ein Abenteuer der Wahrnehmung erkennen muss. ( ... )
Und doch glaube ich, dass man nach einem Wissen streben kann, das fern der Sprache ist und auf visueller Kommunikation sich gründet, eine Entfaltung des optischen Geistes erfordert und von der Wahrnehmung im ursprünglichen und tiefsten Sinn des Wortes abhängt." (Stan Brakhage, Metaphors on Vision, in: Film New York 1963. Zitiert nach: Filmkritik, Nr. 4/1968, S. 262)

Die Filme von Brakhage entstanden aus dem privaten Umfeld seiner Familie in einer einsamen Berggegend in Colorado. Titel wie ANTICIPATION OF THE NIGHT, WINDOW WATER BABY MOVING, THE ART OF VISION, FIRE OF WATERS, SCENES FROM UNDER CHILDHOOD, TEXTURE OF LIGHT und Beschreibungen wecken Erinnerungen an ABBANDONO und DIWAN von Nekes wie auch an KASKARA von Dore 0. Dieses "private'' Umfeld, aus dem die Einstellungen entstehen, bildet ein konstitutives Element der Nekes-Filme: die photographische Abbildrealität wird erst durch die Anwendung von genuin filmischen Gestaltungsmitteln und deren Thematisierung zur poetischen Botschaft. Wiederholungen der gefilmten Objekte verweisen auf die Machart. Semiotisch gesprochen führt uns ein Übermaß an Redundanz von Signifikaten - Wiederholung von räumlich identischen Einstellungen; z.B. die Fenstereinstellung in HYNNINGEN (5.Teil von DIWAN) auf die Ebenen des Gebrauchs von Signifikanten:

Einzelbild-Sequenzen und Bildfelder-Montagen in der Kamera sind die filmtechnischen Mittel einer Reflexion über die Trägheit der Wahrnehmung, durch die Film als zusammenhängende Abfolge erlebbar gemacht wird und über die Entstehung von filmischen Informationen. Mehrfachbelichtungen fordern zusätzlich zur horizontalen (in der Zeitachse) die vertikale Lesbarkeit von Film; diese bezieht sich auf die Verschmelzung der unterschiedlichen Ebenen innerhalb eines Einzelbildes.
Die Vorliebe für sanfte Landschaften und die dokumentarischen - weil nicht psychologisch strukturierten - Einstellungen von Darstellern aus dem privaten Leben des Filmmachers kann aber nicht einfach unter die Formel "Die Form wird zum Inhalt" subsumiert werden und in einer weiterführenden Analyse unbeachtet bleiben. Durch den säkularisierten Gebrauch seiner filmtechnischen Mittel schafft Nekes den Bezug zur entzauberten Welt der Moderne und versöhnt sie gleichzeitig in der schönen - aber gebrochenen Einstellung- der Versuch, dem Film seine verlorene Aura wiederzuschenken. Die Fenstereinstellung in HYNNINGEN oder die Küsteneinstellungen im dritten Teil von T-WO-MEN durchdringen die materiellen Phänomene im Sinne Kracauers und verlassen sich, trotz vielfältiger Bearbeitung während und nach der Aufnahme, auf die Suggestivkraft des von der Kamera aufgenommenen "Rohmaterials". Die Idee von der Errettung der äußeren Wirklichkeit die nach Kracauer einzig durch das von der Kamera festgehaltene Leben im Rohzustand realisiert werden kann, praktiziert Nekes in einer offeneren Art; nämlich durch die radikale, aber filmische Bearbeitung dieses Rohmaterials. Im Gegensatz zu abstrakten Filmen, die bildende Kunst mit dem Faktor Zeit erweitern, bleiben die Filme von Nekes dem photographischen Aufnahmeverfahren treu.

Der Vorwurf Kracauers an die Avantgarde, sie beute die physische Realität auf Kosten der Komposition aus, kann auf Nekes aus dem Erwähnten nicht zutreffen.

Die Futuristen

Bereits die Futuristen erhoben in ihrem Manifest für den Film die Forderung nach einer polyvisuellen Filmkultur. Ihre Auseinandersetzung mit dem Film fand beinahe nur auf der theoretischen Ebene statt; überzeugende Beispiele der in ihrem Manifest formulierten futuristischen Kinematographie kennen wir nicht, die Kopien der wenigen realisierten Filme sind verschollen. Das Film-Manifest der Futuristen enthielt filmästhetische Grundlagen, die für die historische Avantgarde des Films (vor allem in Frankreich und Deutschland) bestimmend waren und zum Teil bis heute aktuell geblieben sind:
"Le cinématographe est un art par lui meme. Le cinématographe ne doit donc jamais copier la scène. Le cinématographe, étant essentiellement visuel, doit parachever avant tout l'évolution de la peinture: se détacher de la réalité, de la photographie, du gracieux et du solennel. Devenir antigracieux, déformant, impressioniste, synthétique, dynamique, verbolibre."

Grundsätze zur Praxis des futuristischen Films werden in vierzehn Punkten aufgeführt, wie zum Beispiel:
"Nos films seront:
1. Des analogies cinématographiées utilisant directement la réalité comme un des éléments de l'analogie. ( ... ) Les monts, les mers, les bois, les villes, les foules, les armées, les escadres, les aéroplanes nous serons souvent des mots formidablement expressifs: L'UNIVERS SERA NOTRE VOCABULAIRE. ( ... )
3. Des simultanéités et des compénétrations cinématographiées de temps et de lieux divers. Nous donnerons dans le meme instant-tableau deux ou trois visions différentes l’une à cote de l'autre.
4. Des recherches musicals cinématographiées (dissonances, accords, symphonies de gestes, de faits, de couleurs, de lignes etc.) (Futuristisches Manifest für den Film, zuerst erschienen in: L'Italia Futurista, Nr. 9, 11.11.1916. Zitiert nach: Dominique Noguez, Eloge du cinéma expérimental, Paris 1979, S. 29/30)


Während die allgemeine Einleitung vom Film die Erweiterung der bildenden Kunst fordert, bleibt die Anleitung zur Praxis dem photographischen Charakter des Films treu; sie gibt Beispiele von neuen Erzählstrukturen, die nicht mehr dem Theater verhaftet bleiben, sondern auf einer visuellen Sprache beruhen. Die Gegenüberstellung des futuristischen Film-Manifests mit den filmtechnischen Mitteln, mit welchen Nekes eine strukturelle Erweiterung der Filmsprache anstrebt, macht deutlich, dass die Forderungen der historischen Avantgarde - Absage an die narrative Kontinuität, Weiterentwicklung filmischer Gestaltungsmittel wie Montage, Mehrfachbelichtung, Polyvisualität, Rhythmuswechsel von ihr selbst nur rudimentär realisiert wurden.
Radikales Experimentieren konnte erst in Bewegungen, die außerhalb des kommerziellen Kinos aktiv waren, stattfinden; in den sechziger Jahren das "Underground Cinema" in den USA - das nach Godard im selben Gebäude wie Hollywood domiziliert ist, aber eben im Keller -, in den siebziger Jahren das "Andere Kino" in der BRD, zu dem auch Nekes gezählt werden muss. Die Entwicklungen der "Nachkriegs-Avantgarde" in den USA und nach Mitte der sechziger Jahre auch in Europa müssen im Zusammenhang mit der filmischen Avantgarde in Frankreich und deren Vorläufer, den "Filmimpressionisten" betrachtet werden.

Die Filmimpressionisten
Im Gegensatz zu den Futuristen hinterließen die Filmimpressionisten - sie werden auch als die erste Film-Avantgarde bezeichnet Spuren in der Filmgeschichte. Zu der von Louis Delluc, dem Begründer der französischen Filmkritik, inspirierten Gruppe gehörten noch heute bekannte Filmkünstler/Innen wie Germaine Dulac, Abel Gance, Marcel l'Herbier und Jean Epstein. Ihre Filme haben eine magische Ausstrahlung, inhaltlich sind sie von der symbolistischen Lyrik beeinflusst, in inneren Monologen werden differenzierte Seelenlandschaften ausgelotet. Sie wollten den Film von seinen kommerziellen Fesseln befreien und die Ausdrucksmöglichkeiten des neuen Mediums ausschöpfen. In ihrer Filmästhetik orientierten sie sich aber vorwiegend bei den impressionistischen Malern. Mit der subjektiven Einstellung, beabsichtigten Unschärfen, Doppelbelichtungen, Verzerrungen und variablen Aufnahmegeschwindigkeiten versuchten sie, den Blick des impressionistischen Malers mittels der Kamera zu erweitern. Da die Weiterentwicklung der filmischen Mittel der Übermittlung eines literarischen Inhaltes diente und selbst nicht thematisiert wurde, können die Filmimpressionisten nicht zur eigentlichen filmischen Avantgarde gezählt werden. Es gehört jedoch zu ihrem Verdienst, Film als "siebte Kunst" durchgesetzt und Widerstand gegen das photographierte Theater geleistet zu haben. In seiner filmtheoretischen Schrift "Photogenie" bezeichnete Delluc filmisch besonders geeignete Ansichten von Menschen und Objekten als „photogen" und prägte damit einen heute bereits volkstümlichen Begriff.
Historische Avantgarde - Analogie von Musik und Film
Erst die so genannte "zweite Avantgarde" war die eigentlich filmische. Trotz ihren Wurzeln im Kubismus und Surrealismus distanzierte sie sich im Namen des "cinéma pur" von den klassischen Künsten: der Film soll von allen dramatischen und literarischen Elementen befreit werden. Der Zuschauer soll dem Film eine der Musik vergleichbare Rezeptionshaltung entgegenbringen. Germaine Dulac schrieb 1925 als Bindeglied zwischen den Film-Impressionisten und der Avantgarde in den "Cahiers du Mois":

"Der integrierte Film, von dem alle träumen, ist eine visuelle Sinfonie aus rhythmischen Bildern, die von dem Empfinden des Künstlers geordnet auf die Leinwand geworfen werden. (...) Es gibt Sinfonien, es gibt reine Musik, warum sollte das Kino nicht seine eigenen Sinfonien haben?" (Germaine Dulac in. "Les Cahiers du mois", Paris 1925. Zitiert nach: Jerzy Toeplitz, Geschichte des Films, Band 1, Berlin 1972, S. 449)


In ihren Filmen DISQUE 1927 (nach Chopin) und ARABESQUE (nach Debussy) verfährt sie jedoch nach eindeutigen Zuordnungsmustern, die nur wenig ästhetische Information vermitteln: dunkle Farben, schummriges Licht drücken Molltöne aus, während ein lächelndes Kind das "entsprechende" Allegro visualisiert.Auch die Filme von Nekes können aus einer der Musik vergleichbaren Rezeptionshaltung "gelesen" werden. Bei der Übertragung von musikalischen Strukturen in den Film geht er jedoch einen Schritt weiter: Musik wird nicht visualisiert, sondern die spezifische Mimesis der Musik - der Bezug zum Leben ohne konkrete Gegenständlichkeit - wird anhand von filmischen Ausdrucksmöglichkeiten reflektiert. In ULIISSES arbeitet Nekes nach dem nämlichen Verfahren auf die Literatur bezogen: die Joyce'sche Spracharbeit wird reflektierend auf den Film umgesetzt.Der Hinwendung zum Film von bildenden Künstlern wie Leopold Survage, Walter Ruttmann, Hans Richter und Viking Eggeling ging eine intensive Beschäftigung mit den musikalischen Elementen der Malerei voraus. Die Suche nach einem Strukturmodell in der Musik zur Entwicklung der "neuen Kunst" animierte zunächst viele Maler zur abstrakten Malerei. Der Analogie von Musik und abstrakter Malerei steht jedoch die zeitliche Existenz der Musik entgegen. Der Schritt in die filmische Praxis war nicht zuletzt in dieser zeitlichen Entsprechung von Musik und Film begründet.Die Vorstellungen von Zeit und Bewegung wurden Anfangs dieses Jahrhunderts von den Schriften des Philosophen Henri Bergsons beeinflusst. Entscheidend für seine Überlegungen ist das Verhältnis von Raum und Zeit: Die von der Naturwissenschaft betrachtete Wirklichkeit entspricht nach Bergson dem Raum; er ist homogen in sich. Die Zeit hingegen ist nicht, sie wird immerzu. Das Leben erscheint Bergson "als ein Strom. der durch Mittlerschaft eines entwickelten Organismus von Keim auf Keim überfließt." (Henri Bergson, Schöpferische Entwicklung, Jena 1930, S. 33)
Die wirkliche Zeit, die Dauer, kann der Verstand nicht begreifen. Als ein Beispiel für das Verhältnis vom Verstand zur Zeit führt er die Funktionsweise des in diesen Jahrzehnten entstehenden Kinematographen an: die Bewegung eines gefilmten Objektes setzt sich aus starren Einzelbildern zusammen, die erst in der beschleunigten Aufeinanderfolge die Illusion der Bewegung erzeugen (a.a.0. S. 276). Dauer - nicht die Illusion von Zeit - vermögen wir nach Bergson nur durch Intuition zu erfassen. Im Zusammenhang mit der "Evolution Créatrice", seiner Philosophie vom Werden des Seins, macht er ebenfalls den Vergleich mit der Musik:
"Viel eher stehen wir hier einem
m u s i k a l i s c h e n Thema gegenüber, das sich zuerst selbst als Ganzes in eine gewisse Anzahl von Tönen transponiert hat, und worüber dann weiter, und ebenfalls als Ganzes, mannigfaltige Variationen ausgeführt worden sind; einfach die einen, unendlich kunstvoll die anderen. (a.a.0. S. 176)Erste Schritte zur Verwirklichung der Analogie von Musik und Farbe wurden mittels der seit dem 18. Jahrhundert bestehenden Lichtorgeln unternommen: verschiedene Künstler entwickelten ihre eigenen Zuordnungssysteme, um die Strukturen der Musik mit den visuellen Formen in der Farblichtmusik zu synchronisieren. Deren begrenzte Ausdrucksmöglichkeiten ebneten den Weg zu filmischen Experimenten. 1911 versuchte Leopold Survage mit einem von der Gaumont-Filmproduktion entwickelten Farbverfahren, seine bewegten Farb-Rhythmus-Sinfonien zu realisieren; der Kriegsausbruch hinderte ihn daran. Seine Überlegungen zum Klang der Farbe:
"Psychologisch sind weder die Farbe noch der Klang - absolut und isoliert - fähig, uns zu rühren und zu beeinflussen, sondern nur alternierende Farb- und Klang-Reihen. Folglich verstärkt die Kunst des farbigen Rhythmus - dank ihres Bewegungsprinzips -dieses Wechselspiel das schon in normaler Malerei existiert, aber nur als eine gleichzeitig auf die Fläche gebrachte Farbgruppe, ohne wechselnde Beziehungsmöglichkeiten. Durch das Mittel der Bewegung erzielt die Farbe eine höhere Wirkkraft als bei unbeweglichen Harmonien. Die Farbe ihrerseits verschwistert sich mit dem Rhythmus. Indem sie aufhört nur ein Anhängsel des Gegenstands zu sein, wird sie vielmehr zum Inhalt, zur Seele der abstrakten Form ..." (Leopold Survage, Les Soirées de Paris, Paris 1914. Zitiert nach: Karin v. Maur (Hg.), Vom Klang der Bilder, München 1985, S. 229)
Die Realisierung der, von Survage zitierten, bewegten Malerei konnte erst in den abstrakten Kompositionen von Eggeling und Richter stattfinden. Eggeling, ein Schwede, emigrierte anfangs dieses Jahrhunderts nach Deutschland. 1918 verkehrte er in Zürich mit den Dadaisten und lernte Richter kennen, mit dem er drei Jahre zusammen arbeitete. In Rollen-Zeichnungen und Formstudien untersuchten Eggeling und Richter die Ausdruckskraft verschiedener Formen anhand von Komposition, Proportion und Anzahl, um so die Grundsätze des plastischen Rhythmus zu finden. Sie setzten die Zeichnungen systematisch in Beziehung zueinander; einerseits in der Kontinuität des Films, andererseits durch eine Strukturierung nach musikalischen Formen:
"Im Kontrapunkt der Musik entdeckten wir ein Gestaltungsprinzip, das unserer Philosophie entsprach: Jede Aktion ließ eine entsprechende Reaktion folgen. Der kontrapunktische Aufbau einer Fuge, bei dem gegensätzliche Energien dynamisch aufeinander bezogen werden, erschien uns als Abbild des Lebens selbst." (Hans Richter, My Experiments with Movement in Painting and in Film, in: G. Kepes (hg.), The Nature of Art and Motion, London 1965. Zitiert nach: Vom Klang der Bilder, a.a.0. S. 419)
Diese Äußerung verweist auf eine Parallele zur Nekes'schen Theorie vom Zusammenprall der Bilder und deren gegenseitigen Verschmelzung. Im Gegensatz zu Eggeling und Richter konzentriert sich Nekes auf den photographischen Charakter des Films; die Lichtaufnahme der Kamera und deren Umkehrung, die Projektion, welche die Verschmelzung der Bilder verursacht, nehmen die zentrale Stellung in seinem Filmschaffen ein.
Einflüsse der bildenden Kunst
Die Beeinflussung der bildenden Kunst auf das Werk von Nekes ist wiederum nicht im Sinne einer Visualisierung sondern auf der methodischen Ebene zu verstehen. Die abstrakten Kompositionen der historischen Avantgarde beschränkten sich auf die Erweiterung der bildenden Kunst in der Zeitachse - zum Beispiel die Verschmelzung von Zeichnungen eines Rollenbildes wie wir bei Eggeling und Richter gesehen haben. Nekes geht auch in der filmspezifischen Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst einen Schritt weiter: die ästhetischen Grundfragen des Pointillismus, Futurismus und Kubismus werden auf der filmgestalterischen Ebene reflektiert
Die futuristische Forderung nach einer Poetik des Simultanen und der Poly-Expressivität nimmt in seinem Werk einen wichtigen Stellenwert ein. Die Mehrfachbelichtung, die im Erzählkino eine Realitätsüberschreitung anzeigt, wird bei Nekes zum autonomen Gestaltungsmittel; ein filmisches Musikinstrument, auf dem er Fugen und Variationen entwickelt. Die Mehrfachbelichtung kann auch die Wiedergabe der kubistisch gewandelten Raumvorstellung bewirken, in der nicht mehr der Fluchtpunkt der illusionistischen Renaissance-Perspektive als Orientierungspunkt gilt, sondern ein bewegliches Sehen, das zwischen Fläche und Räumlichkeit pendelt, wie etwa in TEXTUR, dem dritten Teil von AMALGAM. Eine adäquatere Umsetzung der kubistischen Raumdarstellung erreicht Nekes jedoch mit der Bildfelder-Montage in der Kamera. Bildfelder haben bei ihm den Umfang von 2-16 Einzelbildern. Sie werden von einer selbstgebauten, computergesteuerten Shutter-Blende in der Kamera montiert: diese vor dem Kameraobjektiv aufgesetzte Blende ist mit dem Kameralaufwerk synchronisiert, sie steuert die Lichtzufuhr auf das Zelluloid und ermöglicht so die phasenweise stattfindende Belichtung von verschiedenen Bildfeldern. In der Duschszene von ULIISSES zum Beispiel erscheint auf vier Einzelbildern der sich duschende Uli, die folgenden vier Einzelbilder zeigen ihn beim Rasieren. In einer späteren Szene geht Uli eine Fabrikmauer entlang; sein Gang wird abwechslungsweise aus drei verschiedenen Perspektiven belichtet: die Bildfelder Halbtotale von der Seite, nah von Hinten und nah von der Seite erzeugen einen springenden und zugleich verschmelzenden Bewegungsablauf. Die Verschmelzung der Einzelbilder, verursacht durch die Trägheit der Wahrnehmung, führt zu einem weiteren konstitutiven Element in Nekes' Filmschaffen. Dieser pointillistische Ansatz ist zugleich die Grundlage seiner Filmtheorie. Wie die poititillistischen Maler ihre Bilder aufgrund von einzelnen Punkten komponieren, die zu einem Bild verschmelzen, so lässt Nekes Einzelbilder und Bildfelder auf der vertikalen (räumlichen) und der horizontalen (zeitlichen) Ebene zur filmischen Information werden. Das Ziel ist die Umwandlung des Bildmaterials in Informationsenergie. Der Informationsgehalt des Films wird vom Kine - darunter versteht Nekes die Differenz zwischen zwei aufeinander folgenden Einzelbildern - bestimmt.
Montage-Konzepte
Eisensteins Montage-Theorie beruht auf der Erkenntnis, dass das Zusammenfügen von zwei Einstellungen Assoziationen und somit Information erzeugt. Er entwickelte in seinen Filmen die "zwischen-bildausschnittliche Konflikt-Montage", besser bekannt unter dem Namen "Montage der Attraktionen". Im Gegensatz zu Pudovkins und Kulesovs Montagekonzeption, die auf eine bruchlose Kontinuität abzielt - nach Eisenstein das "epische Prinzip" - betonte er das dialektische (oder "dramatische") Prinzip der Montage:
"Meiner Ansicht nach ist aber Montage nicht ein aus aufeinander folgenden Stücken zusammengesetzter Gedanke, sondern ein Gedanke, der im Zusammenprall zweier voneinander unabhängiger Stücke ENTSTEHT ('Dramatisches' Prinzip). ('Episch' und 'dramatisch' in Bezug auf die Methodik der Form und nicht auf Inhalt oder Handlung!!)"( Sergej M. Eisenstein, Oktober, Schriften 3, München 1975, S. 205)
Er vergleicht den Zusammenprall von zwei Einstellungen mit der japanischen Hieroglyphik, "wo selbstständige ideographische Zeichen ('Bildausschnitte') nebeneinander gestellt zu einem Begriff explodieren." Z.B. Auge + Wasser = Weinen (Sergej M. Eisenstein, Oktober, Schriften 3, München 1975, S. 205). Eisenstein interessierte sich also für den intellektuellen - in seinen Filmen den ideologischen - Effekt der Assoziationen erzeugenden Kollision zweier Einstellungen; Nekes hingegen bezieht sich in seinem Vergleich mit der thaumatropischen Bildverschmelzung im Film eher auf den physiologischen Effekt: Wie in seinem 1985 entstandenen Film. WAS GESCHAH WIRKLICH ZWISCHEN DEN BILDERN? greift er in die Vorgeschichte des Films zurück, um seine theoretischen Vorstellungen zu veranschaulichen. Ein einfaches Beispiel für das Kine, die Differenz zwischen zwei Einzelbildern, ist das von Fitton und Paris 1826 erfundene Thaumatrop. Dies ist eine runde Karton- oder Metallscheibe mit vor- und rückseitig je einer verschiedenen Abbildung, z.B. von einer Frau und einem Mann in erotischer Stellung. Wenn die Scheibe hinreichend schnell um die eigene Achse rotiert, verschmelzen die beiden Bilder und produzieren in der Wahrnehmung des Betrachters die Illusion eines sich liebenden Paares. Der Film mit 24 Einzelbildern in der Sekunde verleiht dem Kine eine entschieden größere Kapazität. Bei einem Bildfeld von vier Kadern a, b, c, d, bilden b und c je zwei Kine, nämlich mit a und c bzw. mit b und d.Theoretisch stehen sich die Überlegungen von Eisenstein und Nekes nahe, die unterschiedlichen Anforderungen an die Montage werden jedoch in der filmischen Praxis deutlich sichtbar. In PANZERKREUZER POTJEMKIN und vor allem in OKTOBER stellen die zusammenprallenden Einstellungen syntagmatische Einheiten dar, die schon für sich eine Bedeutung tragen. Die zusätzliche, durch die Montage entstehende Information, ist auf codifizierbare Werte gerichtet: sie realisiert sich eindeutig im ideologischen Gesamtzusammenhang. Nekes führt diesen "klassischen" Gebrauch der Montage ad absurdum. Er dehnt den Montagebegriff auf jeden Zusammenprall von Bildern aus. FiIm bedeutet für ihn 23 x Montage in der Sekunde. Beim Fragen nach der raison d'etre des Films gelangt Nekes zur Antwort, "dass Film der Unterschied zwischen zwei Bildern ist: also die Arbeit, die das Hirn zu leisten hat, um die Verschmelzung zweier Bilder zu produzieren." (Werner Nekes, Kinefeldtheorie, S. 147 in diesem Katalog) Montage aufgrund seiner Kinefeldtheorie wird zum autonomen Ausdrucksmittel, das nicht mehr im Dienst eines erzählerischen oder ideologischen Zusammenhangs steht.
Die Stellung der Montage im filmischen Gestaltungsprozess von Nekes ist besser mit derjenigen Dziga Vertovs vergleichbar. Dieser beschränkt sich in seiner Montagekonzeption ebenfalls nicht auf die ideologische Information der Einstellungen, die durch deren Kollision entsteht und in einen erzählerischen Gesamtzusammenhang eingebettet ist. Sie zielt auf die Ausweitung über die eigentliche Phase des Schnitts hinaus und wird zur generellen Handlungsmaxime des "faktographischen Arbeitens":
"Die Kinoki legen der Montage eine völlig andersgeartete Bedeutung bei und verstehen die Montage als die Organisation der sichtbaren Welt." (Dziga Vertov, Schriften zum Film, München 1973, S. 45)
In Vertovs Konzept der "Faktographie" wiederspiegelt die Montage nicht außerfilmische Fakten wie bei Eisenstein, sondern sie thematisiert das Prozessuale der Filmfakten und die organisierende Arbeit des Produzenten - exemplarisch demonstriert in DER MANN MIT DER KAMERA. Eine weitere Parallele ergibt sich aus der Emphase für die Filmkamera. Was bei Vertov noch rudimentärer Aufruf zur "Befreiung der Kamera" (a.a.0. S. 14) war, nimmt Nekes als Forderung in einer filmtechnisch anspruchsvollen Weiterentwicklung der Kapazität der Filmkamera auf.
Das Erlernen der FilmspracheDieses filmtechnische Forschen betreibt Nekes zur strukturellen Erweiterung der Filmsprache, die seines Erachtens nach bald einem Jahrhundert Filmgeschichte noch immer in einem embryonalen Zustand verharre. Obschon die Weiterentwicklung der Filmsprache maßgebend von der kommerziellen Ausrichtung der Filmindustrie beeinträchtigt wird, betont Nekes, dass Film nicht nur intuitiv, sondern wie eine Fremdsprache oder Mathematik erlernt werden könne. Das Ziel liegt allerdings nicht in einem universellen Organisationssystem. Nekes sagt:
"Wie neue Formen der Filmsprache aufgebaut werden können und sollen, so ist jedoch auch gleichzeitig die Aufforderung impliziert, dieselben wieder zerstören zu können. Wider den tödlichen Akademismus der Reproduktion des soeben Geschauten." (Werner Nekes, Spreng-Sätze zwischen den Kadern, in: Hamburger Filmgespräche IV, hrsg. Hamburger Gesellschaft für Filmkunde, Hamburg 1972)
Wegen der Auflösung der dualistischen Form-Inhaltgebung sind Nekes-Filme kaum deskriptiv fassbar. Die filmischen Mittel sind zwar begrifflich eingrenzbar, deren Komposition aber lässt die "Filmsprache" radikal visuell werden. Die herkömmlich komparatistische Filmkritik erübrigt sich. Der Schreibende kann letztlich nur seine "Lesart" vermitteln.
Nekes-Filme können als "offene Kunstwerke" im Sinne Umberto Ecos verstanden werden. Sie veranlassen den Betrachter zu einer seriellen Reihe stets veränderlicher "Lektüren". Im Gegensatz zur Zen-Kultur zum Beispiel leben wir aber in einer Zivilisation, in der die potentielle Freiheit der visuellen Assoziationen von bestimmten suggestiven Intentionen eingeengt wird. Überall sind wir bemüht, einen Sinn zu finden. So sind wir unablässig gefordert, ein Kunstwerk nach unseren Erfahrungen zu beurteilen und zu kontrollieren.
Nekes Filme können uns die Augen öffnen. Die permanente Reflexion über den Entstehungsprozess und die Wahrnehmung von filmischer Information stellt die überlieferten Codes radikal in Frage. Sie produziert eine eigene Poetik, befreit von den Banden eines vorgefertigten Schlüssels. Wir kommen nicht umhin, uns im Dunkeln des Kinos aus der Versenkung der weichen Sessel aufzurichten, um durch die selbsttätige, lustvolle "Lektüre" der polyvisuellen Vielfalt zu einer polyvalenten Denkweise zu gelangen. Nekes sagt in ZWISCHEN DEN BILDERN, seinem Beitrag zu einem Fernsehfilm über Montage:
„... so bemühe auch ich mich (wie die pointillistischen Maler, T.I.) in Auseinandersetzung mit den Geräten, den visuellen Prinzipien etwas Adäquates zu meinem Denken zu schaffen. Also eine visuelle Sprache zu finden. Das, was mich umgibt, zu zerlegen und wieder neu zusammenzufügen, so dass der Zuschauer ein aktiver Partner meiner Arbeit wird, dass bei ihm Phantasie möglicherweise produziert wird, durch die Kollision von verschiedenen Bildelementen, durch die Anstrengung, die für mich eine Lust ist, die auch ihm eine Lust werden kann, dass seine Augen mehr zu tun haben."

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