Werner Nekes Retrospektive
Von Bazon Brock

Kult, Komik, Himmelreich

Wenn das Kino noch eine Jahrmarktsattraktion wäre, was würden die Schlepper rufen, um das Publikum in eine Vorführung von Nekes ULIISSES zu ziehen? Würden sie es bei den geheimnisvollen Hinweisen auf Spiegelmenschen, auf Gespenster aus Schatten und auf täuschend echte Stimmen aus dem Jenseits belassen? Würden sie also nur die üblichen Attraktionen ihres Metiers herausheben? Wohl doch, aber sie würden in jedem Fall auch damit locken, dass ULIISSES seinem Schöpfer einen Platz im Wachsfigurenkabinett gesichert habe, denn unter Jahrmarktsattraktionen gilt das Institut der Madame Tussot als Olymp. ULIISSES ist ein Film, in dem alle anderen enthalten sind, auf den alle anderen immer schon verwiesen haben. Selten hat in der Kunst-, Literatur- und Filmgeschichte konsequentes und radikales Experimentieren so folgerichtig zur Erarbeitung eines Meisterwerkes geführt; denn es gibt keine Zweifel, dass ULIISSES ein Meisterwerk ist, das heisst, eine verbindliche Formulierung von Problemen, an denen viele Menschen über lange Zeit Interesse bekundeten, gerade weil diese Probleme ihrer endgültigen Formulierung noch entbehrten. Meisterwerke fallen nicht vom Himmel, sie sind auch kein Zufallstreffer. Die Struktur der Nekes-Retrospektive sollte vor allem jüngeren Menschen zeigen, dass sie nicht darauf warten können, mit etwas Musenschmus und Inspiration, mit viel Geld und vielen Attraktionen ein grosses Werk jemals zustande zu bringen. Die Retrospektive dokumentiert in je unterschiedlicher Weise, welchen Weg Nekes in 20 Jahren zurückgelegt hat, um schliesslich über alle diejenigen zu triumphieren, die formalen Experimenten des Filmers, seiner künstlerischen Ambition und seiner philosophischen Askese bestenfalls das Existenzrecht eines Kuriosums zugestehen wollten.    
Ich wünsche mir Besucher für diese Nekes Retrospektive, die sich an Nekes ein Beispiel nehmen wollen; ein Beispiel dafür, dass heute so gut wie eh und je einem einzelnen ohne finanziellen oder institutionellen Hintergrund gelingen kann, sein künstlerisches Werk konsequent zu entwickeln, unbeirrbar durch die Geschäfte des Tages und die Verlockungen der Macht der öffentlichen Meinung.Wer von ULIISSES her das Nekes-Werk im Angebot dieser Retrospektive aufmerksam verfolgt, wird als junger Künstler oder Intellektueller eine begeisternde und Kraft gebende Bestätigung selbst der kühnsten Ziele erfahren.   
Entdeckungsreisen ins NächstliegendeDie Filme KELEK und HURRYCAN machen Positionen der Selbsterfahrung deutlich, die Nekes nicht nur für sich erobern wollte und erobert hat. Sie beschreiben in überraschender Weise die Erfahrung einer ganzen Generation. Die bekannten Stichworte, mit denen man diese Erfahrung signalisiert, hiessen "Selbstverwirklichung; die Wiederkehr des Körpers; die neue Sensibilität". Dergleichen spricht sich leicht aus, vor allem, wenn es programmatisch gemeint ist. Auch soll ja eine der artige Selbsterfahrung nicht nur beschrieben werden, sondern ermöglicht werden.Nekes' Filme liessen sich als Versuchsanordnungen verstehen, in denen vornehmlich der Sehsinn für die Selbstwahrnehmung des Individuums trainiert werden konnte. Bis dahin gab es nur ein natürliches Medium der visuellen Selbstwahrnehmung, nämlich den Spiegel. Aber die Selbstbespiegelung war negativ bewertet, so als sei sie direkter Verweis auf erhebliche neurotische Defekte.Nekes setzte die Kamera als Spiegel der visuellen Selbstwahrnehmung ein. Während Vertow das Individuum mit dem Kameraauge identisch werden ließ, um dessen Aneignung der Außenwelt vollständig den Bedingungen und Formen des neuen Mediums anzupassen, richtet Nekes die Kamera gegen sich selbst: eine wahrhaft subjektive Kamera.Natürlich hatte es zu diesem Vorgang eine Reihe von Vorversuchen gegeben, die zum Teil bis heute wirkungsvoll blieben: Es sei nur an Adolf Winkelmanns "Gang durch Kassel" erinnert. Der Filmer Winkelmann trägt die Kamera während eines Spaziergangs so mit sich herum, dass sie stets auf ihn gerichtet bleibt. Aber derartige Versuche erwiesen sich bald im Vergleich zu Nekes' Radikalität als hübsche Studien.Ich kann mich noch gut daran erinnern. welchen Eindruck die in den Türmen der Avantgarde abgehärteten Kinogänger von jener Sequenz in KELEK erhielten, in der Nekes den Geschlechtsakt der Kamera mit einer Frau sich selbst vor Augen führt, weil er die Kamera ist.Das schien denn doch zu weit zu gehen. Man wollte höchstens anerkennen, dass Nekes ein sprechendes Bild für die Verdinglichung zwischenmenschlicher Beziehungen gelungen war.Nur wenige waren damals bereit, mehr zu sehen. Was sieht man denn tatsächlich anders, wenn der Kameramann mit laufender Kamera selber den Beischlaf vollzieht? Was lehrt die fotografische Reproduktion der Geschlechtsorgane in Naheinstellung? HURRYCAN demonstriert eine der verbindlichen Antworten auf diese Fragen.Wie im kommerziellen Action-Kino alle menschlichen Selbst- und Fremdbeziehungen mit Blick auf Macht, Gewalt und Sexualität veranschaulicht werden, so versinnlicht und erotisiert das Selbsterfahrungskino die Dinge der Welt, als seien sie Organe der Selbsterkenntnis. Nicht die Geschlechtsteile haben diese oder jene Wertigkeit - nicht sie sind pornografisch oder sakrosant - der Blick ist es. Das vornehmlich durch das Kameraobjektiv verfeinerte und leistungsfähiger gewordene Auge enthüllt die Welt, als sei sie überall nur Ich. KELEK und HURRYCAN stehen für die Versuche einer Generation, den kalten Blick des professionellen Betrachters, den mitleidlosen Blick des TV-Konsumenten und den folgelosen Blick des Voyeurs umzulenken zur Selbstwahrnehmung. Heißt das tatsächlich, weltflüchtig zu werden, wie immer wieder behauptet wurde? Heißt das, nur Selbstbespiegelung zu betreiben, anstatt sich mit der Wirklichkeit zu konfrontieren? Sinnvoll ist es, als Wirklichkeit das zu formulieren, was sich dem Zugriff der Individuen entzieht.Gerade in diesem Sinn entdeckt Nekes, dass sich prinzipiell jeder Gedanke einer vollständig authentischen sprachlichen wie bildlichen Formulierung entzieht, und dass umgekehrt sich kein sprachliches Bild durch Gedanken ersetzen lässt. Aus dieser uneinholbaren Diskrepanz von Denken und Sprechen begründet sich ja jegliche Ästhetik; gerade die scheinbar formalistische Ästhetik der Nekesschen Filme belegt, wie sehr diese Filme die Kraft zur Konfrontation mit der Wirklichkeit haben.Eine kleine Geschichte der BildideenWenn man es als einen besonderen Vorzug von Werner Nekes auffasst, dass seine Filme die Zeit ihrer Entstehung zum Sprechen bringen, dann sollte das nicht heissen, er habe nur aufgegriffen, was in der Zeit lag, was allgemein in der Luft lag. lm übrigen ist es bisher niemandem gelungen, auch nur zu vermuten, was dieser selbst den kreativsten Genies gegenüber schon auf weite Entfernung eindeutig wahrnehmbarer Zeitgeist eigentlich ist, worin seine Wirkung gründet. Am wahrscheinlichsten ist es noch, dass bedeutende Künstler durch ihre Werke unsere Wahrnehmung so zu beherrschen vermögen, dass wir das jeweilige Zeitpanorama unter diesem Blick zu seinem Kontinuum vereinheitlichen, in dem ein- und derselbe Geist herrscht.Ich habe es eigentlich immer als Gradmesser seiner Kreativität empfunden, dass er aus jeder Situation etwas zu machen verstand. Unter diesen Bedingungen sind die entscheidenden Qualifikationen für einen Künstler Ausdauer, Durchhaltevermögen, Konzentrationskraft und Leidenschaft. Ich kenne Nekes seit 1967, und ich kenne sehr viele Künstlerbiographien. Auch ich bin häufig dazu verführt worden, Durchhaltevermögen als sture Einfallslosigkeit zu werten, die Konzentration auf eine Sache für den Ausdruck erstaunlicher Naivität zu halten und die Leidenschaft mit dem Geltungsanspruch zu verwechseln. Vielleicht besagt es etwas wenn ich Nekes gegenüber zu keiner Zeit versucht war, derartige Umdeutungen vorzunehmen. Er bewegte sich von Anfang an mit traumwandlerischer Sicherheit auf Probleme zu, deren Bearbeitung sich dann tatsächlich auch für die jeweilige Arbeit außerordentlich wichtig und typisch erwies. Er war zwar nicht Opinion-Leader, aber Problem-Scout; er war nicht skandalträchtiger Trouble-Maker, sondern ein jederzeit akzeptierter Freund, der Verständnis für die Probleme der anderen aufbrachte.In der Tat dürfte es einmalig in der Filmgeschichte sein, dass ein so unbeirrbarer Avantgardist wie Nekes vom Anfang seines Wirkens an bis heute Anerkennung und Auszeichnung erfahren hat.Da gilt dann auch der Einwand nicht, Nekes sei eigentlich folgelos geblieben; denn seine Werke sind ja in vieler Hinsicht die Summen der Bildideen seiner Zeit. Um das zu demonstrieren, muss man Nekes als einen bildenden Künstler schlechthin und nicht bloss als einen Filmkünstler akzeptieren.Man stelle sich einmal vor, dass in unseren wunderbaren Museen nur ein Bild an einer Wand zu sehen wäre, wie das in unseren leider nicht mehr allzu zahlreichen, aber ehemals wunderbaren Kinos geschieht. Umgekehrt stelle man sich einmal vor, dass die ehemals wunderbaren Kinos auch heute noch existierten, etwa in der Größe von Museen, und dass jeder Film in Einzelbilder zerlegt würde, die an den Wänden des Museums nebeneinander hingen, wie die Malereien eines Künstlers. Nekes' Filme sind solche Museen filmisch vergegenständlichter Bildideen, sie übertragen Präsentations- und Rezeptionsweisen der bildenden Kunst auf den Film, nicht nur der Kunst seiner Zeit, sondern vor allem auch des Pointillismus, des Kubismus, des Dadaismus und des Futurismus.Es hilft, sich einen Nekes-Film so vorzustellen, als sei er eine Ausstellung eines Malers in einem Kunstmuseum, das aber gleichzeitig auch ein Museum der Technik und der Naturkunde, der Heimatkunde und der Pädagogik enthielte. Der Generaltitel seiner Ausstellungen lautet immer wieder: Geist und Zeit und deren Fleischwerdung, deren Inkarnation in Licht und Rhythmus.

 

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