III. Landschaft - Behausungen

Abbandono
von Dieter Kuhlbrodt

ABBANDONO, 1967 bis 1971, mit und für Dore 0. Fünf Jahre mit und für Dore 0. - Zweiunddreißig Minuten lang Szenen, die Dore 0. betritt, niemand sonst. Ein Zimmer mit Ausblick auf die Dächer. Ein Schneefeld, eine Eisküste, eine Bergwiese. Ein Zimmer. Vor Dore O. und nach Dore 0. bleibt die Szene, ruht die Natur. Die Kamera, die das Zimmer aufnimmt, erfasst Dore 0., die tut, was sie im Zimmer tut: angeschnitten, unscharf, zufällig. Die Kamera erfasst die Landschaft, ruhig, gleich bleibend, lastend wie diese. Und in die Totale geht, läuft, verschwindet Dore 0.
Dore 0. in der Verlassenheit, nell ' abbandono. Ich kann mich nicht erinnern, in Bildern so stark die Zweideutigkeit des Betretens und des Gebrauchs der Natur gesehen zu haben. Dore 0. isoliert sich darin. Die grossen Landschaften müssten sie niederwerfen. Die langen Einstellungen müssten bedrücken. Die fahlen Farben stellen sich zwischen sie und den Raum; sie betonen das Andersartige des allgemeinen Gegenstandes, der sie umgibt; unnatürliche Farben: Filterlicht beim Kopieren. Gelegentlich verstärkt auch die Einstellung das Fremde, auf das sich Dore 0. verlässt. So, wenn der Horizont abgeschnitten wird und auf der Bergwiese die Orientierung verloren geht. So, wenn beim Küstenbild die Strukturen betont werden: die Kamera wählt sich die Strandlinie zur Waagrechten; der Horizont, steil aus dem Bild schießende Gerade, begrenzt den Raum nicht mehr. Die große Natur, kunstvolle Fremde, zeigt Dore 0. in ebenso großer Verlassenheit. Aber, und darin fand ich das Ambivalente der Bilder, die einsame Dore 0. entfaltet und vergnügt sich darin. Sie läuft, lacht, wirft den Schneeball, rollt sich auf dem Hang der Bergwiese, sucht spielerisch nach etwas, verschwindet geisterhaft aus dem Bild, um stracks wieder einzutreten. In einer einzigen ruhigen Kurve, in einem langen An- und Abschwellen verläuft der Film. Das enge Zimmer - Schnee und Eis – die sonnige Bergwiese - Schnee und Eis - das Zimmer. Das feinfühlig Wetterhafte der Stimmungen, die sich sacht verschieben und deutlich und merkbar werden, wird vom Ton konkretisiert. Anthony Moore wiederholt die eine lange ruhige Kurve des Films im Detail. Ein ungewisser, ziehender, schwer bestimmter Ton schwillt an und ab (Ein Klavierakkord, dessen Anfang und Nachklang weg geschnitten ist). Rhythmus setzt sich später darein, eine Melodie taucht auf, zum Schluss des Films verflacht die Musik-Kurve, wird eins mit der absinkenden Film-Kurve, verläuft sich. Schönheit und Wirkung des Films besteht so in dem Beispiel, das der Ton gibt: wie er auf die Dinge eingeht, die er mag, und wie er dadurch auf ihre Bedeutung hinweist.

Die Bedeutung der Dinge, die Leere des Natur-Allgemeinen, das Dore O. aussetzt und schützt zugleich, wird jedoch nicht festgestellt. Sie kann nur im Verlauf des Films wahrgenommen werden. Die Bedeutung fließt unmerklich ein. Sie ist dann da. Ihre Anwesenheit kann vermerkt werden. Und sie gleicht dem Glücksgefühl des Findens nach zielloser Suche. So finden sich in dem Film die Bilder, die die Pferdeschemen zeigen (Negativaufnahmen schwach oliv getönt). Und zwischen fahlen Farben, den Eisschollen an der Winterküste, taucht Dore O., dies eine Mal, ganz nah vor der Kamera auf: im warmen Sommerlicht. Nicht die Einsamkeit: das Glück des grössten aller Freiräume, - das teilt sich in diesen Einschüben, in den Fixpunkten des grossen Suchens mit. Nekes tritt hinter seinen Film zurück. Es bleibt ein Doppelportrait, und darin bleiben weder Dore 0. noch die grosse Landschaft unverändert. Die Kälte der eisigen Küste - die lange Einstellung auf Steine, Schnee und Meer - vergeht vor dem Bild Dore O.'s. Einsamkeit erübrigt sich, wenn die grandiose Bergwiese zu Purzelbäumen einlädt.



Diwan
"Morgens, wenn dich nach dem Aufklappen der Läden die Ausblicke nicht faszinieren, beginne mit Projektionen. Die Natur ist nur dein Bild; sie entspricht sofort deiner Vorstellung. Warte nicht, dass die Veränderung des Lichts vom Himmel kommt; du siehst den Himmel mit deinen Augen; mit deinen Augen triffst du die erste Entscheidung." Jürgen Becker, "Die Türe zum Meer"

DIWAN enthält fünf eigenständige Filme über Landschaft, einsame Häuser und ihre - nicht alleinstehenden - Bewohner. Der Titel spielt auf die Gedichtsammlung des persischen Lyrikers Hafis wie auch den "Westöstlichen Diwan" Goethes an; tatsächlich kann die Intensität der sanften Mehrfachbelichtungen, die Stimmungen von Behütetsein und Verlassenheit evoziert, als Visualisierung der orientalischen Liebeslyrik von Hafis und deren Hommage von Goethe betrachtet werden. Eine auf die literarischen Referenzen bezogene Analyse, die innere Verwandtschaften zu Tage fördern würde, drängt sich nicht auf. Die eigenwillige Filmarbeit von Nekes muss von ihren eigenen Strukturen her "gelesen" werden.
SUN-A-MUL (gälisch: die vom Licht ausgewaschene Landschaft), der erste Film, zeigt ein Steinhaus in einer Küstenlandschaft, vor dem die Bewohner spazieren. Die Mehrfachbelichtungen aus leicht unterschiedlichen Perspektiven bewirken, dass die Einstellung des Steinhauses an der Küste dauernd auf sich selbst verweist. Dieses filmische Verfahren erinnert an Gertrude Steins „a rose is a rose is...“ Die Bildfolge reduziert sich auf ein wiederholendes Hinzeigen, welches das dualistische Dogma von Form und Inhalt zersetzt. Sie wird zum komponierten Klanggebilde das zur Wirklichkeit eine andere Beziehung als die der konkreten Gegenständlichkeit herstellt. Die Reihe führt endlos weiter; hier das Steinhaus - verweist immerzu auf sich selbst als auf ein von ihr Verschiedenes, so dass die Herstellung einer
Identität nicht gelingen kann.
In ALTERNATIM (wechselweise) stehen flimmernde Aufnahmen einer Burgruine stilisierten und starren Bildern von Hausecken, die in den Himmel ragen, gegenüber. Die vom Titel angesprochene Gegensätzlichkeit zweier Möglichkeiten, das Flackern der Ruineneinstellung und die formalisierten Standbilder der modernen Architekturelemente, thematisiert eine an die Romantik erinnernde wechselseitige Dualität von Leben und Tod: das Zerfliessen, lösen alles deutlich Sichtbaren und die unausweichliche Todesstarre. Die kontrastierende Montage bleibt aber ein formales Experiment. Durch die abgeschlossene Gliederung der bewegten Bilder gegenüber dem starren Block findet eine gegenseitige Einwirkung nur beim jeweiligen Wechsel der Blöcke statt.
KANTILENE (gesangartige Melodie), der dritte Film, führt den filmischen "Diskurs" über Lebensräume konsequenter fort als ALTERNATIM. Nekes entwickelt einen Bilderbogen von wiederkehrenden Einstellungen: Dore 0. kletternd im Felsen, schlafend, eine ländliche Siedlung durchquerend, Mann mit Pfeife vor dem Fenster, fliessendes Wasser, Dore 0. und Nekes lesend und trinkend vor dem Fenster. Es stellen sich intuitiv Beziehungen zwischen den Personen untereinander und der Landschaft her. Die repetitive Montage erzwingt keinen zusammenhängenden Sinn - die Bedeutungen erwachsen aus der frei assoziierenden Vernetzung und Mehrfachbelichtung der Einstellungen.
In MOTO wird die motivische Orientierung aufgegeben. Das Bezugsfeld der Darsteller und der Landschaft ist episodenhaft strukturiert; einzelne, zuweilen frühere Nekes-Filme parodierende Einstellungen stehen unvermittelt nebeneinander. Die Einstellung einer Wiese, auf der zwei Frauen und ein Mann um ein schwarz ausgespartes Rechteck herumkriechen zitiert GURTRUG I, wo Nekes im Laufschritt die auf der Wiese verstreut Selbsterfahrungs-Gruppe umkreiste. Die Zeiten haben sich verändert: in MOTO kriecht Nekes am Boden entlang und anstelle der ausgeflippten Menschengruppe liegt eine schwarze Fläche.
HYNNINGEN (schwedisch: Wohnung, Honigdach), der Schlussteil, ist der eindringlichste Film dieser lyrischen Anthologie. Die Kamera tastet sich zunächst einem Fensterrahmen entlang und versucht einen Blick nach draussen zu ergattern: Himmel und Bäume. Im darauf folgenden Fensterbild, der Grundeinstellung von HYNNINGEN, schenkt Nekes durch eine meisterhafte Anwendung seiner filmischen Mittel, der Mehrfachbelichtung und der Blendenfahrten, dem Film dessen verlorene Aura zurück. Nackte Hausbewohner gehen - in Mehrfachbelichtung - vorüber, kreuzen sich und schauen in die Weite. Zwischendurch objektiviert sich das Geschehene: das Haus erscheint wie ein Leuchtkörper in der mittels Blendenfahrten durch die Jahreszeiten hindurchfliessenden Landschaft.
Die Fenstereinstellung in HYNNINGEN kann als filmische Variation von Magrittes "La condition humaine" betrachtet werden: Vor einem Fenster, im Innern des Hauses steht auf einer Staffelei ein gemaltes Bild, das dieselbe Landschaft repräsentiert wie die Aussicht aus dem Fenster. Der gemalte Baum verdeckt den echten; für den Betrachter bleibt sowohl der echte wie der gemalte Baum im Innern des Hauses. Mit der Mehrfachbelichtung der räumlich identischen Einstellung in HYNNINGEN thematisiert Nekes das Problem der Wahrnehmung zusätzlich in der Zeit, während es Magritte ausschliesslich räumlich darstellte. Beide, der Filmer wie der Maler erzählen so die Geschichte der Wahrnehmung: wir können bildliche Ausdrücke nicht authentisch speichern. Trotzdem prägt jeder gesehene und gegebene Eindruck die aktuelle Wahrnehmung, die ihrerseits wieder die Erinnerung verändert: der Geschmack der Madeleine erweckt die verlorene Zeit.

 

zurück...