Der Tag des Malers

Daniel Kothenschulte
Das Auge ist träge, aber nicht faul
Werner Nekes 'Der Tag des Malers’ und die Erotikgeschichte der Medienkunst
09.01.2003

Das Phänomen, auf das Wemer Nekes Filme mehr als alles andere rekurrieren, ist das, dem wir die Erfindung der bewegten Bilder überhaupt verdanken: Die Trägheit des Auges. Aber wäre unser Sehorgan wirklich so träge, wie ihm von der Physik unterstellt wird, es würde den Teufel tun, sich ausgerechnet der Reizflut des Kinos auszusetzen. Oder wenn, dann hätte es wenigstens dafür gesorgt, dass uns Lumières Filme aus einer einzigen Einstellung als Norm erhalten geblieben wären. Doch das Auge ist träge, aber nicht faul - und ebenso wie durch sein Handicap, schnelle Bewegungsabläufe zu erfassen durch seine Lust am Bewegungsreiz definiert. Lange bevor das Fernsehen schließlich dazu führen sollte, dass auch der ganze Körper seine Trägheit vor dem Bewegungsbild vergessen durfte, war diese Janusköpfigkeit unserer Sehlust bekannt: Der Wunsch nach Variation in der Trägheit brachte nacheinander Porter, Eisenstein, Hitchcock und MTV hervor. Als Werner Nekes Mitte der Sechziger Jahre begann, Filme zu machen, befand sich das Kino im Vollbesitz seiner Kräfte und der Mord unter der Dusche lange geschehen. Was es zu erschließen galt, war der vergessene kleinste gemeinsame Nenner, die Minimaldefinition des Films, der Nekes zeitgleich mit den Experimenten des Strukturellen Films in New York auf der Spur war. 'Der Ursprung des filmischen Lebens, um es in Vorgriff auf Nekes erotisches Panorama Der Tag des Malers mit Corbet zu sagen. Zu einem Zeitpunkt, als sich die zeitgenössische, semiotisch geprägte Filmtheorie, ausgehend von der Syntax der Sprache mit der Einstellung als filmischer Minimalgröße begnügte, die mit dem Wort innerhalb eines Satzes verglichen wurde (als gäbe es nicht auch dort kleinere Einheiten wie Phoneme), endete Nekes Spurensuche an der Schnittstelle zwischen den Bildern : 'Dann gelange ich zu der Antwort, dass Film der Unterschied zwischen zwei Bildern ist, heißt es in Nekes „Kinefeldtheorie“. Also die Arbeit, die das Hirn zu leisten hat, um die Verschmelzung zweier Bilder zu produzieren. .

Tag des Malers

Man sprach von Expanded Cinema , sagte mir Morgan Fisher kürzlich, der heute von der Kunstwelt wiederentdeckte Zeitgenosse dieses Aufbruchs im experimentellen Film, aber genau darum ging es nicht. Reduced Cinema wäre der treffendere Ausdruck gewesen. Dieses technische Interesse an der Funktionsweise des Films führte bei Nekes wie auch bei anderen Avantgardisten des strukturellen Films zugleich zu einer ikonografischen Spurensicherung dessen, womit mit diese Elementarteilchen des Kinos in dessen Frühgeschichte belegt waren. Emie Gehr zum Beispiel dehnte in 'Eureka den fünfminütigen Panoramafilm einer Straßenbahnfahrt von 1903 auf eine halbe Stunde-, Standish Lawders „Intolerance“ verkürzte Griffith gleichnamiges Werk auf eine Viertelstunde 16mm-Film. Morgan Fisher rettete in Standard Gauge jenes sogenannte China Girl, das auf jedem Filmvorspann dem Kopierwerk Hinweise zur Lichtbestimmung gibt, aus der Obskurität. Dabei ging es zwar auf formaler Ebene um zeitliche Wahmehmungsphänome und die Offenlegung filmischer Techniken. Zugleich aber zeugten diese Arbeiten von einem Interesse an den wenig beachteten Bildgegenständen eines aus dem Blickwelt verschwundenen Teils der Filmgeschichte. Heute kann man konstatieren, dass erst die Filmavantgarde der späten Sechziger und frühen Siebziger Jahre die Filmwissenschaft auf ihre Versäumnisse bezüglich des frühen Films aufmerksam machte und schließlich zur Aufarbeitung der ersten zwei Jahrzehnte der Filmgeschichte führte, die seit den achtziger Jahren zu erleben ist. Werner Nekes hat diese archäologische Basisarbeit intensiver als alle anderen Künstler betrieben, wobei er sich auf die Vor- und Urformen der filmischen Wahrnehmung konzentriert hat.

Tag des Malers

Heute ist Kunst, die Film zum Thema hat, im Ausstellungsbetrieb präsent wie nie. Stan Douglas Installationen, die sich aus der Technikgeschichte, aber auch der Soziologie des frühen Kinos, seinen politischen Implikationen, aber auch den Geistesgeschichtlichen Voraussetzungen aus dem 19. Jahrhundert speisen, folgen der Spur, die Werner Nekes in den Sechziger Jahren gelegt hat. Dennoch ist dieses medienhistorische Interesse, das sein filmisches Werk ursprünglich prägt, stets in Gefahr gewesen, auf seine technischen Aspekte reduziert zu werden. Tatsächlich aber sind gerade die Sujets der frühen optischen Spielzeuge wie ja auch viele frühe Kinostoffe nicht von ihrer medialen Umsetzung zu trennen, ja stellen vielfach sogar eine deutliche Reflexion der technischen Wirkungsweisen da. Zu gehört das Thaumatrop- oder Wunderscheibenspiel. Noch heute werden Kinder in Bastelanleitungen aufgefordert, runde, nach bestimmten Vorlagen zu zeichnende Bilder auf Bierdeckel zu kleben und ihnen einen Faden zu unterlegen. Ziel des Spiels ist die Verschmelzung beider Motive durch schnelles Zwirbeln. Dieses Phänomen ließe sich mit allen nur irgend kombinierbaren Motiven vermitteln. Doch die häufigsten Sujets dieser Scheiben thematisieren diese Verschmelzung sehr direkt in ihren Bildmotiven. Im französischen Jeu Du Taumatrope der Jahrhundertwende in der Nekes Sammlung gibt es sogar eine Scheibe, die eine Projektion zum Inhalt hat: Auf der einen Seite ist eine Laterna Magica vor leerer Leinwand abgebildet, auf der anderen das Dia, das auf diese Leinwand geworfen werden soll. Das erste Thamatrop, das ich mit fünf Jahren getreu der Anleitung durch Donald Ducks Bastelbuch anfertigte, zeigte einen Vogel und einen Käfig. Alle Mühe des Zwirbelns zielte folglich darauf, den armen Vogel entgegen aller Verheißung der Animation - und doch nur mit ihrer Hilfe - in den Zustand seiner unglücklichen Gefangenschaft zurück zu versetzen. Erwachsene hatten ihre eigenen Thaumatrope, die zwei Phasen des Liebesaktes miteinander in Aktion treten ließen. Stets zielten diese einfachen Geräte also auf die Simulation der Vervollkommnung - und damit auf die Erfüllung einer existentiellen Sehnsucht.

 

Werner Nekes Filme handeln vielfach von dieser ebenso glücklichen wie tragischen Sehnsucht nach Komplettierung - dem Wirklichen zwischen den Bildern eben. Am deutlichsten ist das vielleicht in „Uliisses“ : a Lost without a shadow heißt es da im Dialog. In einer Geisteraufnahme, dem neben dem Stopptrick wirkungsmächtigsten der ersten Filmtricks, vollzieht sich für den Protagonisten die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Anaglypheneffekte erinnern im Rot-Grün-Stakkato an das ebenfalls von Lumiere perfektionierte frühe 3-D-Kino und seine Sehnsucht nach einem erweiterten Bildraum. Lost without a shadow - das war für Siegfried Kracauers verkürzte, die Frühzeit ausblendende Filmgeschichte auch der Beginn der deutschen Kinomythologie: Paul Wegener als zur Unvollkommenheit verdammter 'Student von Prag - ein Lichtbild, der das doch nichts ist ohne seinen Schatten. Nekes Filme führen nicht nur die Interaktion der einzelnen Filmkader vor Augen, sie handeln auch von den Umständen, die uns Vereinigungen überhaupt herbei sehen 1ässt. In diesem Sinne ist es eine Kunst, die stark von der Romantik geprägt ist - eine stilgeschichtliche Referenz, die sich natürlich auch in den illusionistischen Apparaturen der Vor- und Frühgeschichte des Films aus dem 19. Jahrhundert in der Nekes-Sammlung erleben 1ässt. Und es ist eine Kunst, die sich häufig auf erotische Ikonografien und die Geschichte der Aktdarstellung in der Malerei bezieht. Nekes bislang letzter abendfüllender Film „Der Tag des Malers“ thematisiert diese Ikonographie einer popularisierten Kunstgeschichte, die sich im frühen Kino ebenso erleben 1ässt wie in den spätromantischen Idyllen der Software der Latema Magicas. Durchgehendes Sujet ist die Aktdarstellung, ein Lieblingsthema fotografischer Illusionen seit ihren Anfängen und ein neben der technischen Sensation weiterer, im wahrsten Sinne Schlüsselreiz des Mediums. So wie Nekes Filme von einer Schwelle der Wahrnehmung handeln, der Schwelle zwischen Bewegtheit und Statik, betreibt auch die erotische Kunst eine Schwellenüberschreitung. Ebenso wie sich die frühen Pornographen in der Wahl ihrer Darstellungsmodi aufkunsthistorische Vorgaben bezog, stellt Nekes Vorbilder aus der Malerei nach: Courbets „Quelle des Lebens“ , Matisse 'Reigen , Duchamps Akt eine Treppe hinabsteigend und viele andere. Ausgangspunkt ist in der ersten Sequenz das klassische Sujet malerischer Selbstreflexion, das Genre  Der Maler und das Modell. Im zwanzigsten Jahrhundert hat Pablo Picasso die bekanntesten Variationen dieses Motivs geschaffen, die in seinem Werk der Nachkriegszeit ebenso für künstlerische Schaffenskraft im Allgemeinen stehen mögen wie für das Serielle der Kunstproduktion als Gegenprogramm zum singulären Meisterwerk. Nekes hingegen ist durchaus am singulären Meisterwerk gelegen.

Tag des Malers

Der Tag des Malers zeigt, was 'La Belle Noiseuse nicht zeigen mag: das unbekannte Meisterwerk, heißt es selbstbewusstironisch auf der Hölle der Videoveröffentlichung von 1997 in Bezugnahme auf Jacques Rivettes. So zeigt der Film nach der Eröffnungssequenz nicht mehr die Herstellung von Kunst - das klassische Sujet des Künstlerfilms - sondern die Kunst selbst als Abfolge filmischer Aktdarstellungen. Dennoch ist ein Akt natürlich, zumindest, wenn er mit fotografischen Mitteln generiert wird, nicht vom Prozess seiner Herstellung zu trennen, die stets auf die Anwesenheit und Zurschaustellung eines leibhaftigen Modells angewiesen ist. 'Der Tag des Malers, das klingt ein wenig wie 'Der Kontrakt des Zeichners. Tatsächlich erinnert eine Szene, die das malerische Sujet durch den kadrierenden Blick eines vorgesetzten Gitters, wie es seit der Renaissance als Hilfsmittel proportional korrekter Darstellung verwendet wird, an Peter Greenaways Spielfilm The Draughtman s Contract, der ebenfalls eine Verbindung zwischen der technischen Abstraktion dieser frühen Reproduktionshilfen und dem Filmkader herstellte. Die von beiden Filmemachern gleichermaßen thematisierte Schaulust ist eine Grundvoraussetzung für die Revolution des Kinematografen. Im frühen Kino war dieses Verhältnis zwischen der Attraktion des Dargestellten und der Technik noch ungebrochen man denke zum Beispiel an die hohe Zahl von Filmen mit Serpentintänzerinnen aus der Jahrhundertwende. Wenn ein Film heute eine Serpentintänzerin zeigt - Claude Chabrol leistete sich dieses Experiment in einem seiner jüngeren Thriller - dann denkt man unwillkürlich an die frühe Kinogeschichte. Wenn ein Film heute - ohne narrative Einbindung - aus Aktdarstellungen besteht, so ist er ebenso wenig von der Zeit zu trennen, in denen der Akt noch eine mediale Sensation darstellte. Im Genre der Pornographie ist dies noch heute so; dennoch kennt das anerkannte Kino, anders als etwa noch der Avantgardefilm der 60er Jahre, das Genre der künstlerischen Aktdarstellung praktisch nicht mehr. Nekes Film ist in diesem Sinne zunächst ein unverfrorener Anachronismus; alle Modi mit filmischen Mitteln, noch dazu in selbstgewählter Nachfolge malerischer Traditionen, die Schönheit des weiblichen Körpers zu feiern, scheinen inzwischen hoffnungslos ausgeschöpft. Dennoch hat sich ein autonomer Aktfilm, anders als das Aktfoto, nie durchgesetzt. Es wäre einfach, diesen Film von der Vermessenheit und Naivität freizusprechen, sich in diesem Genre noch einmal zu versuchen, indem man ihn über seine mediale Metaebene reflektierte. Doch obwohl Nekes über die Laufzeit von 90 Minuten über die optischen Illusionen von Zerrspiegeln und einem Glasfußbodens wie ihn Ren Clair benutzte, um einer Tänzerin unter den Rock zu blicken, bis zur Technikgeschichte des frühen Bluebox-Videos und Auflösung in grobe Pixel nahezu alle technischen Darstellungsmodi einsetzt, ist ihm kaum daran gelegen, etwa das Voyeuristische des Mediums vorzuführen. Ebenso wenig beinhaltet seine Aufbietung zahlloser kunsthistorischer Vorbilder in der Aktdarstellung einen Wunsch, sich von diesen kritisch zu distanzieren. Nekes nimmt die frühe Kinematografie und ihre Vorläufer nicht nur in ihrem technischen Erbe ernst - sondern, und darin liegt die eigentliche Radikalität, auch in ihrem haltlosen Ästhetizismus und einer grundsätzlichen Sehnsucht, an verbotene Orte zu gelangen.Für Nekes war dieser Ort stets der des unsichtbaren magischen Augenblick filmischer Illusion, der Raum zwischen den Bildern. Doch wo dieser Ort im Leben zu suchen war, daran gab es seit einem frühen Film von 1966 auch keinen Zweifel. Im weiblichen Geschlecht. In 'jüm-jüm’ schaukelt die nackte Co-Regisseurin Dore 0. vor ihrem eigenen Gemälde eines Phallus - und wird doch erst durch die den realen Bewegungsfluss aufbrechenden Montage animiert. Nekes Werkzeug, sich den bewegten weiblichen Akt zu unterwerfen, war dasselbe, das Matisse wählte, als er nach einer Fortführung der Malerei suchte - die Schere. In Viererblöcken wurden die Einzelbilder mühsam strukturiert. Später erlaubte es die von Nekes erfundene Shutterblende, den Film Einzelbildweise in der Kamera zu montieren. Das Lieblingssujet allerdings blieb erhalten. Welches Motiv passte besser zur Sehnsucht nach Verschmelzung, zur Ergründung des Geheimnisses der Animation, als Courbets „Quelle des Lebens“ ?

 

Wenn Nekes in 'Der Tag des Malers’ einem seiner Modelle eine Kamera an die Wade bindet, um uns bei jedem Schritt durch eine idyllische Sommerwiese in die weibliche Scham blicken zu lassen, sollten wir dies nicht als Ironie missverstehen. Nekes ist viel zu sehr ein Künstler des 19. Jahrhunderts, um der Attraktion, die er feiert, nicht auch erlegen zu sein. Dies erklärt auch die ungewohnt emotionalisierende Filmmusik Anthony Moores, der hier ein melancholisches Mollmotiv als Loop einsetzt wie eine Sisiphoshafte Obsession. Diese Filmmusik fügt in einem ganz unstrukturalistischen Sinne die technisch heterogenen Sequenzen zusammen, wobei er barocke Anklänge innerhalb des minimalistischen Duktus die barocke Herkunft der zahlreichen Vanitasmotive betonen. Es ist die unerfüllbare Sehnsucht nach Komplettierung, die sich in dieser Tragik wiederfindet; das also, was Einzelbilder dazu drängt, in einer filmischen Bewegung aufzugehen. Und den Sammler - eine Profession die in Nekes Arbeit die Kunstproduktion inzwischen zu verdrängen droht - nach einer in letzter Konsequenz tragischen Utopie suchen 1ässt. Denn Vollständigkeit wäre natürlich der Tod eines jeden Sammlerlebens. So handelt Der Tag des Malers von der Unerfüllbarkeit einer Sehnsucht und der Unzulänglichkeit der filmischen Mittel, die er doch zugleich feiert. Am Ende steht eine konventionelle 35-mm-Aufnahme des nachgestellten Courbetwerks, die erst im Darstellerspiel ihre reelle Animation erfährt - in der Masturbation. Selten ist die Unzugänglichkeit eines angestrebten Ortes, selten ist die Unzulänglichkeit technischer Simulationswege deutlicher geworden als in diesem Augenblick einer nur von der Bildfigur selbst erlebten Lust. Wie jedes der Aktgemälde, die er thematisiert, zeigt Nekes Film - in einem sehr traditionellen Sinne - die Beschränkung des Kunstwollens, seinem Gegenstand habhaft zu werden. Das mag wie eine Binsenweisheit klingen und ist doch eine essentielle Erfahrung jeder illusionistischen Kunst. Nekes Filme sind oft in ihrer filmtechnischen Beschaffenheit untersucht worden, man ist dem Geheimnis ihrer synthetischen, allein mit filmischen Mitteln erzeugten Bewegungen auf den Grund gegangen und hat den Augentrug damit verständlicher, aber nicht weniger wirkungsvoll gemacht. Auch die kunsthistorischen Bezüge, die Verweise auf Pointilisten, auf Futuristen oder Marcel Duchamp, die in 'Der Tag des Malers noch einmal sämtlich aufgeboten werden, finden sich schon früh in den Texten, die über Nekes geschrieben wurden, gewürdigt. Es ist nur die halbe Wahrheit. Das Auge ist träge, aber nicht faul; vor allem jedoch ist es lüstern. Auch darin kann man es mit Wemer Nekes nur bekräftigen.

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