Der Wunderkammerspieler

Andreas Roßmann (FAZ, 29.04.04)

Was geschieht wirklich zwischen den Bildern? Ein Besuch bei dem Regisseur und Sammler Werner Nekes in Mülheim an der Ruhr"Vorsicht, Treppe! Der Lichtschalter ist links", ruft die Stimme aus der Sprechanlage. Dann summt die Tür auf: Ein winziger Raum, kaum größer als ein Absatz, die Wände bepackt mit Katalogen, und eine Art Speichertreppe, die steil und tief nach unten führt. Dort angekommen, öffnet sich ein weitläufig verwinkeltes Raumgefüge, das vieles in einem ist: Bibliothek, Archiv, Depot, Studio und Schneideraum. Vollgestopft mit Büchern, Folianten, Bildern, Graphiken, Panoramen, Apparaten, Kameras, Filmrollen und optischem Spielzeug, gleichsam aufgelockert von mehreren Arbeitsplätzen, scheint es mit Material überfüllt, doch wohnt ihm eine durchdachte Ordnung inne.Ein Stichwort genügt, und Werner Nekes, der hier lebt und arbeitet, tritt an ein Regal, um den Beleg dafür herauszuziehen. Es ist eine der größten Sammlungen zur, wie er es nennt, "Geschichte der Bilderzeugung" in Europa, die der Filmregisseur und Medientheoretiker in dem ehemaligen Fabrikgebäude in Mülheim an der Ruhr zusammengetragen hat. Die Filmmuseen Paris und Turin, so sagt er, hätten zwar noch größere Bestände, aber nur, wenn Requisiten und Kostüme mitgezählt würden.
Als erstes aber sieht sich der Besucher in einem Hohlspiegel, der ihn verzerrt, multipliziert und auf den Kopf stellt. Ja, womöglich ein Wink mit dem Zaunpfahl, denn er müßte sich in viele Ichs vervielfältigen, um diese Wunderkammer erschließen und in ihrem ganzen Reichtum kennenlernen zu können. Doch dann macht der Hausherr eine kleine Führung. Er durchquert eine Wohnküche und tritt auf eine Terrasse, vor der breit und träge die Ruhr schwappt. Links ein Kajak, rechts ein Bootssteg, bietet sie den Ausblick auf ein Naturschutzgebiet und konterkariert ansichtskartenreif alle düsteren Klischees über das Land von Kohle und Stahl: "Ja, das Wasser ist sauber, hier kann man schwimmen", sagt Werner Nekes nicht eben sprungbereit und zieht an einer Roth-Händle.
Kohle und Stahl, das ist in Mülheim nie alles gewesen, die Stadt hatte ein drittes und sehr viel älteres Standbein. Noch 1924 gab es hier zweiundfünfzig Lederfabriken, mit Ruhrwasser wurden Felle gegerbt, die nach dem Krieg zunehmend davonschwammen. Mit dem Aufkommen von Skai ging die Lederindustrie den Bach hinunter, und das Fallen des Eisernen Vorhangs, das billige Produktionslinien nach Tschechien und Polen abwandern ließ, gab ihr den Rest. Geblieben sind zwei Unternehmen, ein Ledermuseum, das letzten Herbst eröffnet wurde, und Umnutzungen wie diese: Schon 1978 hat sich Nekes, der im Ruhrgebiet aufgewachsen und damals nach Mülheim zurückgekehrt ist, in einer Parzelle der alten Lederfabrik niedergelassen, die einmal der Familie seiner Frau und Kollegin Dore 0. gehörte.
Heute scheint es fast so, als sei auch das Haus mit seinen absichtslosen Möglichkeiten zur Täuschung ein Exponat seiner Kollektion: Einstöckig und schmal, steht es in einer unscheinbaren Reihe auf der Böschung zum Fluß, um in seinem Untergeschoß ein unerwartetes Volumen zu offenbaren. Ähnlich und doch ganz anders als die transparenten Verwandlungsbilder, die sich erst im Durchlicht sinngebend vervollständigen.
Das Wissen um Sehen und Wahrnehmen, Sein und Schein erfährt in der Sammlung, die Nekes in mehr als dreißig Jahren aufgebaut hat, eine enzyklopädische Darstellung. Die Camera obscura, deren Prinzip bereits im vierten vorchristlichen Jahrhundert Aristoteles wie auch der Mathematikerschule der Mohisten in China bekannt war, steht mit Entwürfen und Abhandlungen, die um 1490 einsetzen, am Anfang.
Die entsprechenden Geräte werden ab 1630 gebaut, Prismen, Schattenspiele, Kaleidoskope, Riefel- und Lamellenbilder sowie Spielarten der Anamorphose leiten zur Laterna magica über, Guckkästen, Falt- und Auflegebilderbögen, Vexier- und Verwandlungs-, Overlay- und Rätselbilder, stroboskopische Scheiben und Phenakistiskope schlagen den Bogen zu Bewegungs- und Serienphotographien, die der Erfindung des Films unmittelbar vorausgehen. Auch dessen Wiege ist vertreten: Der Cinematograph, mit dem den Brüdern Louis und Auguste Lumière 1896 die Konstruktion eines Apparats gelingt, der Aufnahmekamera, Kopiermaschine und Projektor vereint und damit erstmals bewegte Bilder möglich macht. Das Exemplar trägt die Seriennummer 423. Auf fünfundzwanzigtausend Objekte und Bilder, die von etwa fünftausend Publikationen begleitet werden, beziffert Nekes seine Sammlung.
Wie kommt es, daß ein Filmregisseur, der in Bonn und Freiburg Sprachwissenschaft und Psychologie studiert und mit einundzwanzig Jahren debütiert hat, sich derart intensiv mit der Vorgeschichte des Kinos befaßt?
„Ich bin eben schon sehr früh Professor geworden", antwortet Nekes trocken. Das wurde er 1969, da war er gerade fünfundzwanzig, an der Hochschule für Bildende Kunst in Hamburg, wo er auch zwei Spielstätten für den Experimentalfilm einrichtete. Doch die Hansestadt hatte für die Avantgardeszene nicht viel übrig, ihre Protagonisten fanden anderswo bessere Möglichkeiten.
Nekes kehrte zurück nach Mülheim, wo er 1980 zu den Mitbegründern des Filmbüros NRW gehörte. Von hier aus übernahm er - in Wuppertal, Offenbach und Köln weitere Professuren auf Zeit, ging auf Vortragsreise und hortete Festivalpreise. Mehr als fünfzig Kurz- und Langfilme hat er gedreht, von denen "Uliisses" (1982), in dem er Joyce' literarische Technik in Filmsprache zu übersetzen versuchte, der bekannteste ist. Neben "Was geschah wirklich zwischen den Bildern" (1984), der lehrreich und unterhaltsam seine Kollektion präkinematographischer Objekte vorstellt und in mehr als fünfzig Ländern im Fernsehen lief, hat "Uliisses" auch die meisten Tantiemen eingespielt. Die Erlöse investierte Nekes in die Sammlung, von der er, als sie mit Vermögensteuer belegt wurde, Teile an das Getty Research Institute verkaufen mußte. Heute werden ihre Objekte von Museen in aller Welt für Ausstellungen angefordert. Gerade erst war eine Auswahl in Graz und Tokio zu sehen, London und Rotterdam sind die nächsten Stationen. Nekes lebt davon, Exponate auszuleihen und Ausstellungen zu kuratieren. Sein letzter Film liegt inzwischen sieben Jahre zurück. "Schauen Sie doch, was im Kino läuft, da sind experimentelle Filme nicht mehr gefragt, weder gibt es eine Berichterstattung darüber, noch läßt sich davon leben", bemerkt er illusionslos.
Schon länger denkt Nekes, der am 29. April 1944 in Erfurt geboren wurde und am heutigen Donnerstag sechzig Jahre alt wird, darüber nach, seine Sammlung langfristig zu sichern. Doch die Verhandlungen gestalten sich schwierig, die sehr komplexen Bestände, die in die Kunst und Wahrnehmungsgeschichte, aber auch in die Visualisierung von Wissenschaftsgebieten wie Astronomie, Medizin oder Physiologie reichen, gehen über bestehende Kategorien hinaus.
Seit Jahren führt Nekes Gespräche mit der Stadt Mülheim, der er sich verbunden fühlt und der er 1992 zur Landesgartenschau in einem nur wenige hundert Meter flußabwärts gelegenen Wasserturm die Ausstellung "Von der Camera obscura zum Film" einrichtete. Heute steht das Denkmal leer und droht zu verfallen. Dabei liegen Landes- und Drittmittel für seinen Ausbau bereit, und ein "lris-Medienmuseum" könnte hier, wo Mülheim mit dem Stadtentwicklungsprojekt "Ruhrbania" den Fluß ins Zentrum holen möchte, einen kulturellen Impuls schaffen.
Doch die Kommune muß mit einem Haushaltssicherungskonzept wirtschaften, ihre finanziellen und räumlichen Möglichkeiten sind begrenzt. Auch sind noch Modalitäten wie Kauf oder Dauerleihgabe und Kompetenzen zu klären. "Das Museum kommt auf jeden Fall", gibt sich Oberbürgermeisterin Dagmar Mühlenfeld zuversichtlich, "gerade der medienpädagogische Aspekt ist uns wichtig." Für vierhunderttausend Euro möchte die Stadt einen Teil der Sammlung erwerben, und Nekes, der künftig mehr publizistisch arbeiten will, hat bereits Zustimmung signalisiert. Angesichts des Reichtums der Bestände aber erscheint eine Einrichtung wünschenswert, die über die Präsentation hinaus auch eine wissenschaftliche Beschäftigung ermöglicht. Dem Ruhrgebiet, dem es mit seinen vielen Festivals an fremden Federn nicht mangelt, bietet sich hier die Chance, einen Schatz zu heben, der sein kulturelles Eigengewicht beträchtlich steigern könnte.

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