Kelek

Von allen Filmemachern des "anderen Kinos" dürfte Werner Nekes am meisten der bildenden Kunst verhaftet sein. Seine bisherigen Kurzfilme erschöpften sich im graphischen Formalismus und blieben unverbindlich. Als Beurteilungskriterien standen nur ihre Techniken zur Verfügung, nicht aber ihre Angemessenheit. Die Kritik war auch entsprechend ratlos. Sie erschöpfte sich im Referieren von Inhalten und Techniken, in der Information. Was läßt sich auch über "Schnitte für ABABA" mehr sagen als Rot, Grün und Musik? Wie kann man diesem Film literarisch gerecht werden, will man nicht nur eine unverbindliche subjektive Assoziationskette geben? Nicht die Legitimität dieser Filme steht hier zur Diskussion, sondern ihr Verhältnis zum Zuschauer. Nekes' Filme (und nicht nur seine) waren Monologe, an denen der Zuschauer, je nach gutem Willen, mehr oder weniger teilnehmen konnte, denen er aber nichts entgegenzusetzen hatte.

Nekes neuer Einstundenfilm "Kelek" leitet demgegenüber einen Dialog ein. Nekes bietet ein dürres Handlungsskelett an. Es mit persönlicher Erfahrung anzureichern, ist Sache des Betrachters. Er wird nicht informiert, ihm werden nur Reize vorgespielt, auf die er zu reagieren hat. Das Bild antwortet nicht, sondern es stellt Fragen. Zuschauer und Film kommen sich auf halbem Weg entgegen. Der Film erlangt so eine Vieldeutigkeit. Man kann sein Thema eine Sexualneurose nennen oder, abstrakter, Kommunikationsschwierigkeiten. Die Schlüsselszene, ein Koitus, kann als Lösung
von Orgasmusschwierigkeiten oder als Bild absoluter Kommunikation gedeutet werden. In jedem Fall beinhaltet sie Befreiung: den vom Ich zum Du, oder wie es der Film ausdrückt: von der eingeengten Perspektive zur Totale, vom Keller auf die Straße. Es erzählt seine Geschichte in fünf elementaren Grundeinstellungen, die teilweise durch Schnitte oder Auf- und Abblenden parallelgeschaltet sind. Diese Bilder registrieren weder Handlungen noch sind sie als subjektive Kamera zu verstehen. Sie spiegeln Bewußtseinsinhalte, losgelöst von zeitlicher oder räumlicher Fixierung. Dem Betrachter wird keine Gelegenheit zur Identifikation gegeben. Er bleibt auf sich selbst gestellt. Beispielsweise ist ein Zittern der Kamera bzw. des Bildes weder nachvollziehbar noch einem logischen Handlungsrahmen zuzuordnen. Es dient nur als Chiffre. Daß diese sich nicht eindeutig, sondern nur
annähernd mit Unsicherheit, Unbehagen, Angst, Neurose umschreiben läßt, spricht für ihre Qualität. Auch dem Koitus werden alle individuellen Züge genommen. Er wird auf seinen Kern reduziert. Dadurch entsteht ein stilisiertes Bild, das allen persönlichen Erfahrungen zugänglich ist. Nur die Eingangsszene fällt aus diesem Rahmen heraus, ich halte sie deshalb auch für die schwächste. Die Kamera bewegt sich einen Parkweg entlang und schwenkt vor einem Entgegenkommenden auf den Boden. Hier hat das Bild kein Eigenleben, sondern steht stellvertretend für den Blick einer Person. Die Kamera weist dem Zuschauer einen Standort
zu.

Kelek
Die einzelnen Einstellungen beschränken sich meist auf einen starren Bildausschnitt mit geringem Informationsgehalt: ein Gang durch einen Park, ein Blick aus einem Kellerfenster auf vorübergehende Passanten, von oben betrachtete gehende Beine, eine Nebenstraße mit geringem Verkehr. Doch durch ihre Länge aktivieren sie den Zuschauer. So wird der Blick aus dem Kellerfenster zuerst nur als graphisches Muster begriffen, die ersten Passanten als dürftige Abwechslung begrüßt, doch mit der Zeit unterliegt man dem Zwang dieser Szene, und eine Figur an einem gegenüberliegenden Fenster gewinnt eine nahezu, metaphysische Bedeutung. Es wäre falsch, hier von Symbolen zu sprechen. Symbole, hat man sie erst einmal durchschaut, fallen in sich zusammen. Diese Bilder jedoch gewinnen mit der Länge der Betrachtung an Bedeutung.

Wie die Sprache Becketts haben sie keine erläuternde, sondern eine enthüllende Funktion. Der Unterschied zu ähnlichen Filmen wie etwa "Wavelength" liegt darin, daß die Bilder weniger Selbstzweck sind, sondern einen spezifischen Aussagegehalt haben, der mit denen anderer korrespondiert. So ist in der Schlußszene das Kellerloch, das so lange unsere Perspektive bestimmte, am Bildrand wieder zu erkennen. Im Verlauf dieser Szene blicken spielende Kinder in die Kamera. Diese hält jetzt, im Gegensatz zur zitierten Eingangsszene, dem Blick stand. Nekes führt uns hier eine Melodie vor, während er bisher nur einzelne Töne von sich gegeben hat. Der Vergleich hinkt weniger, wenn man bedenkt, daß einzelne Szenen dieses Filmes auch als eigenständige Filme neben Nekes früheren stehen könnten. Töne kann man mehr oder weniger ergreifend finden. Über die Anzahl der Schwingungen läßt sich kaum diskutieren. Bei einer Melodie hingegen können Änderungsvorschläge angebracht werden. Die Kritik erfüllt wieder eine Funktion.
(Klaus Bädekerl, Filmkritik 1969, S. 113/114)

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