Diwan

"Mehrere Filme von Werner Nekes, dem in Toulon eine Retrospektive gewidmet war, repräsentierten in Toulon das Neue Deutsche Kino ... Vor allem aber muß hier die Rede sein von Diwan, dessen Titel von dem berühmten Werk des Hafis entliehen ist (man denkt vielleicht auch an Goethes West-Östlichen Diwan) so wie der sanfte Perser in seinem Diwan ganz verschiedene Casidèhs, Terdjibends oder Moukattaats zusammenstellte und auf diese Weise eine Art Almanach oder ein poetisches Pot-Pourri entstehen ließ, so hat auch Nekes in diesem opus magnus fünf ganz verschiedene Filme vereint, teilweise handelt es sich um Studien, die an seine frühen Filme erinnern können, teilweise um Abfolgen (möchte man fast sagen) wie die aus "T-WO - MEN" und es scheint, als ob alle diese alten Elemente, die in den früheren "T-WO - MEN" Filmen zu einem bisher unerreichten para-narrativen Meisterwerk vereint waren, hier sozusagen als Samen neu in den Boden gesät sind, in scheinbarer Unordnung (die eine gelehrte Ordnung ist), wie sie ein Notizbuch bietet. Allerdings gibt es dann in Diwan einen fünften Film, der im Rahmen von Nekes' Gesamtwerk etwas völlig Neues bietet und der auf bewunderungswürdige Weise den Punkt sichtbar macht, WO ER SICH JETZT BEFINDET.

 

Dieses HYNNINGEN (schwedisch: Honigdach) besteht zuerst aus langen Mehrfachbelichtungen von einer Landschaft mit einer Lichtung, die sich zum Horizont hin öffnet, in deren Mittelpunkt ein einfaches Holzhaus steht, wie man sie aus den nordeuropäischen Ländern oder aus Québec kennt. Man sieht Darsteller - ein Mann und eine Frau - am Fenster, beim Eingang, im Grase gehend, verdoppelt oder sogar verdreifacht durch Mehrfachbelichtungen. Die Spuren, die sie an verschiedenen Momenten des Tages und unter verschiedenen Lichtverhältnissen hinterlassen haben, wirken wie sanftmütige Phantome. Wenn unsere verschiedenen Erscheinungsbilder unsere Ortswechsel und Veränderungen überdauern würden, gäbe dies ein starkes Gefühl der Dauer und auch der Wiederholung, das visuelle Gegenstück zum grammatischen IMPERFEKT, das noch verstärkt wird durch drei hohe Klänge vor einem Hintergrund aus Sinuswellen, die allmählich höher und höher werden. Aber dieses alleinstehende Haus, das in der fast stillen Dichte eines Baudelaire'schen "Nachmittags, der kein Ende hat" aufgenommen ist, das wie dazu gemacht scheint, Frieden und Meditation zu beherbergen, erhält es nicht plötzlich eine verwirrende GEGENWÄRTIGKEIT. Wenn es stimmt, daß der Begriff SEIN, wenn man an seine beiden indoeuropäischen Wurzeln (es, bhû) und an das germanische (wes) denkt, ursprünglich "Leben, sich entfalten, auch wohnen" bedeutet: muß man dann nicht, wenn man diesen WOHNORT sieht, daran denken, was Heidegger vom Menschen als dem "Hüter seines Seins" sagt? Ist dieses Honigdach nicht der Ort des behüteten Seins? Egal was Nekes selbst von seinen Filmen denkt und wie groß auch immer das technische und strukturelle Primat seiner Filme sein mag, ist er nicht dabei, seit diesem DIWAN ein metaphysisches Werk aufzubauen, in dem das Kino die Aufgabe erhält, das Sein zu ver- und enthüllen - eben die Aufgabe, die nach Heidegger das erdrückende Privileg des Menschen ist, welcher der schmerzhaften Erfahrung der Langeweile und der Angst ausgeliefert ist? Das Ende des Films ist ebenso heiter wie geheimnisvoll: es führt uns in das Haus mit dem Honigdach. Vor einem Fenster, das wie bei Magritte weit offen steht, gehen in Mehrfachbelichtungen die Bewohner, nackt und schweigend . . .". (L'Art Vivant, Nr. 52, Oktober 1974, Paris)

 

zurück...