Das türkische Schattentheater

IconGesamten Text als PDF herunterladen... 

Das Türkische Schattentheater

1. Geschichte und Eigenart des türkischen Schattentheaters
Über die Entstehung des türkischen Schattentheaters gibt eine Legende Auskunft. Nach dieser Legende lebten Karagöz und Hacivat, die beiden bekanntesten Gestalten des türkischen Schattentheaters, als Schmied und als Maurer in der Regierungszeit Orhans (1326 - 1359) in Bursa. Vom Sultan hatten sie den Auftrag erhalten, am Bau einer Moschee mitzuwirken. Da sie jedoch durch ihre phantasievollen Erzählungen und Scherze die Menschen um sich herum in ihren Bann zogen, verzögerte sich die Ausführung des vom Sultan befohlenen Auftrags. Schließlich erfuhr der Sultan von der Ursache der Verzögerung und ließ die beiden in seinem ersten Zorn hinrichten. Doch bald bereute er seinen voreiligen Befehl. Um ihn über diesen Fehler hinwegzutrösten, errichtete Seh Küsteri in einer Palastecke einen Schirm, auf den er die Schatten der beiden Arbeiter projizierte und deren Späße nachahmte.

Diese Legende bringt etwas zum Ausdruck, was für das Verständnis des türkischen Schattentheaters wesentlich ist. Denn wie auf dem Projektionsschirm des Sultans die Schatten die Toten repräsentieren und das "Schattenspiel" ihres Lebens noch einmal vergegenwärtigt wird, so wird im Islam das Schattenspiel überhaupt gern als ein lehrreiches Sinnbild der Vergänglichkeit und Nichtigkeit des menschlichen Lebens betrachtet. Dieser Gedanke entspricht auch ganz dem Grundgefühl des mystischen Sufismus, daß alle Dinge der Welt nur ein Schattendasein haben, durch das das Licht des göttlichen Ur-Einen hindurchstrahlt.


Im 16. Jahrhundert war das Schattentheater in der Türkei bekannt und beliebt. So ließ Sultan Soliman für seine Söhne bei den Beschneidungsfeierlichkeiten im Jahr 1530 und 1539 auch Karagözspiele aufführen. Aus dem 17. und 18. Jahrhundert erzählen zahlreiche Quellen von berühmten Spielern, die zur Freude ihres Sultans Vorstellungen gegeben haben. Das Schattenspiel war zu dieser Zeit sowohl am Hof des Sultans wie auch auf der Straße eine beliebte Art der Unterhaltung. Allerdings wissen wir über die auf den Straßen der Städte und Dörfer vorgeführten Schattenspiele nur wenig aus den vergangenen Jahrhunderten, da die Historiker meist dem Alltag auf der Straße keine Beachtung schenken.


Die überlieferten Stücke bestehen aus einer Anzahl von Episoden, in denen Karagöz und Hacivat die Hauptrolle spielen. Es sind tradierte Stoffe, die jedoch in einem gewissen Umfang aktualisierende Improvisationsmöglichkeiten zulassen. Die dargestellten Ereignisse beziehen sich auf das Leben des einfachen Volkes. Das türkische Schattentheater hat inhaltlich nie einen Bezug zum höfischen Leben gehabt, obwohl es eine Zeit lang am Hofe der Sultane aufgeführt wurde, bis es dann nur noch der Belustigung des einfachen Volkes diente.

 

Karagöz gehört dem Kleinbürgertum an, obwohl er ursprünglich wohl als Zigeuner gedacht war, woraufhin sein Name ("Schwarzauge" als Bezeichnung für Zigeuner) noch hinweist. Er ist der typische arme und derbe, ungebildete und manchmal obszöne Mann aus dem Volke, der immer den Schaden hat und sich durch die Welt zu schlagen versucht. Sein Gegenspieler Hacivat stellt einen angesehenen Bürger und gebildeten Menschen dar, der ein sehr korrektes, fast literarisches Osmanisch spricht.


Die Komik der Stücke beruht auf Wortspielen und Mißverständnissen, die dadurch entstehen, daß Karagöz die von Fremdwörtern durchsetzten Erklärungen seines wesentlich gebildeteren Freundes falsch versteht (oder verstehen will). Diese Mißverständnisse machen ernsthafte Gespräche, geschweige denn feierliche Reden völlig unmöglich. Hier hat der Schattenspieler auch Gelegenheit, seine Erfindungsgabe und seinen witzigen Einfallsreichtum zu zeigen.

 

In häufig recht derben Streichen werden dann im Verlauf des Stückes allerlei Fremde, wie Griechen, Armenier, Araber und Juden, vorgeführt (und hereingelegt), deren Schwierigkeiten mit der türkischen Sprache imitiert werden. Insofern spiegelt das Schattentheater das bunte städtische Milieu wider, in dem sich Angehörige der verschiedensten Völker niedergelassen hatten, um ihrem Gewerbe unter dem Schutz des Osmanischen Reiches nachzugehen.

Der letztlich Geprellte ist aber doch durchweg Karagöz selbst, der nur mit Hilfe seines Freundes aus schlimmen Situationen befreit werden kann, nachdem er vorher seinen "Denkzettel" erhalten hat.


Die verwendeten Schattenfiguren sind zwischen 30 und 40 cm hoch und zeichnen sich durch eine farbenprächtige Transparenz aus. Sie sind, bis auf wenige Ausnahmen, durchbrochen gearbeitet, indem geschickt Einschnitte ausgestanzt werden. Aufgrund dieser Einschnitte haben sich die Figuren mit ihren inneren Konturen leuchtend von dem hellen Hintergrund ab, worauf zum guten Teil ihre ästhetische Wirkung beruht. Auf diese Weise gelangt in die figürliche Darstellung ein dekoratives Element.


Der Schattenspieler dirigiert ganz allein sämtliche auftretenden Figuren und läßt jede mit der ihr angemessenen Stimme sprechen. Zur Ausübung dieser Kunst gehören also ebenso eine große Fingerfertigkeit wie Sprechvirtuosität. Ihm zur Seite, für die Zuschauer ebenso unsichtbar wie er, stehen der "yardak", der ihm die Figuren anreicht, und zwei Musikanten, die sein Spiel und seine Lieder begleiten.



zurück...