Schattentheater der Welt


VII. Türkei: Karagöz

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Das Türkische Schattentheater mit dem Karagözi Orhan Kurth

Auf einem Gestell, ähnlich dem unserer Kasperletheater, ist an Stelle der offenen Szene eine Leinwand aufgespannt, die von einer mehrdochtigen Olivenöllampe erleuchtet wird. Gegen diese Leinwand drückt der Schattenspieler etwa 20 - 25 cm hohe, aus getrockneter Haut hergestellte, gefärbte Figuren vermittels etwa 40 cm langer Holzstäbchen, die in mit Muffen versehene Löcher an den Figuren passen. Der Schattenspieler dirigiert ganz allein sämtliche auftretende Figuren und läßt jede mit anderer, ihr angemessener Stimme sprechen. Zur Ausübung der Kunst gehört also eine ebenso große Finger- wie Zungenfertigkeit. Ihm zur Seite, für die Zuschauer ebenso unsichtbar wie er, stehen der "yardak", der ihm die Figuren so, wie er sie braucht, bereithält und reicht, und zwei Musikanten, die sein Spiel und seine Lieder begleiten.
Alle Figuren sind, mit verschwindenden Ausnahmen, durchbrochen gearbeitet; nicht nur das Weiße des Augapfels und der Freiraum zwischen den verschiedenen Körperteilen sind ausgestanzt, sondern fast stets sind die inneren Konturen durch Reihen von ausgestanzten Schlitzen mit dunklen Rändern angedeutet. Auf diesen Schlitzen, die auf dem hellen weißen Hintergrund sich leuchtend abheben, beruht zum guten Teil die ästhetische Wirkung der Figuren, sie bringen in die figürliche Darstellung ein dekoratives Element hinein. Bei den ältesten bekannten islamischen, aus dem arabische Ägypten stammenden Schattenspielfiguren ist deren Fläche von diesen nur der Verzierung dienenden Ausstanzungen in ganz arabesker Weise überwuchert, wie es dem Charakter der aufs Dekorative gerichteten arabischen Kunst entspricht: bei den türkischen Figuren treten die Schlitze als selbständiges dekoratives Element demgegenüber stark zurück. Immerhin haben sich die Hersteller der älteren Figuren noch einen Sinn für diese selbständige Bedeutung der Schlitze bewahrt, während bei den späteren Figurenschneidern der Schlitz seines ästhetischen Eigenwertes beraubt, nur noch der naturalistischen Formengebung dient.
Von lebenswichtiger Bedeutung für die Schattenspieler war das Verhältnis der religiösen Autoritäten zu ihrer Kunst. Es ist zwar verboten, lebensfähige Geschöpfe nachzubilden, da aber die Schattenspielfiguren ein Loch im Leib hätten, so seien sie als nicht lebensfähig anzusprechen.
Doch hatte das Schattenspiel sich auch einer positiven religiösen Wertung zu erfreuen. Wie in der indischen Literatur, so wird auch im Islam das Schattenspiel gern als ein lehrreiches Sinnbild der Vergänglichkeit und Nichtigkeit des menschlichen Lebens betrachtet. Der orthodoxe Dogmatiker konnte seine Kausalskepsis, die Anschauung, daß alles, was geschieht, einen unmittelbaren schöpferischen Wirken Gottes entspringe, darin bildlich dargestellt sehen, der Sufi aber konnte sich an der bildlichen Darstellung seiner Weltanschauung erbauen: der von den Mystikern so oft ausgesprochene Gedanke, daß alle Dinge der Welt nur ein Schattendasein haben, ihr Sein nur dem durch die Dinge hindurchstrahlenden Licht des allein Wirklichkeit und Wesenheit besitzenden Ur Einen verdanken, fanden im Schattenspiel eine symbolische Darstellung, und die großen Schriftsteller des Sufitums haben dann auch öfters des Schattenspiels nicht, auf dieser belehrenden und erbaulichen Charakter ihres Spiels, der ihm gewissermaßen die religiös-ethische Berechtigung gibt, hinzuweisen. Diesem Zwecke wird regelmäßig das Bühnenghasel am Anfang des Stückes dienstbar gemacht.

Die Hauptfigur der Spiele, Karagöz - "Schwarzauge", was darauf hindeutet, daß er als ein Zigeuner zu denken ist - repräsentiert den Mann des Volkes, den wenig gebildeten Durchschnittsmenschen der Straße; arm, derb, obszön und immer der, der den Schaden hat, bei allen Versuchen, mit der Welt zurechtzukommen. Sein Gegenspieler Hacivat, eigentlich "Haci Ayvat", ist ein Gebildeter, einer der korrektes, leicht literarisches Osmanisch spricht. Vielleicht ist er ein kleiner Beamter, es wird eigentlich nie gesagt, was seine Funktion ist.
Jedenfalls ist er ein angesehener Bürger dieser kleinen "mahalle", also des Wohnviertels, in dem die beiden Nachbarn sind. Karagöz bedient sich, um die Lachmuskeln der Zuschauer in Bewegung zu setzen, einer eigentümlichen Art des Wortspiels und des Wortwitzes. Gewöhnlich handelt es sich darum, daß er Fremdworte und Namen komisch mißversteht und seinem Bildungsgrad entsprechend verdreht. Es ist für ihn gleichsam das Mittel, den Zwang der feierlichen Rede immer aufs neue zu durchbrechen und lustig abzuschütteln. Ähnliches kennen wir ja aus dem deutschen Puppenspiel, doch ist diese Art des Witzes dort nicht entfernt so üppig entwickelt, wie im türkischen Schattenspiel. Es werden kaum drei Sätze ernsten Gesprächs auf der Bühne geführt, ohne daß Karagöz seine kalauernden Glossen dazu macht. Damit das möglich ist, spielen sich fast alle Szenen gewissermaßen vor Karagöz' Hause ab, so daß er beständig Gelegenheit hat, ein auf der Straße geführtes Gespräch zu belauschen und von oben aus dem Fenster seine kommentierenden Bemerkungen dazu zu machen. Die Erwachsenen Türken scheinen an diesen Wortwitzen viel mehr Vergnügen zu haben, als an dem ihnen, so weit es sich um das altüberlieferte Repertoire handelt, von Jugend auf bekannten Inhalt der Stücke selbst. Hier hat auch def Schattenspieler Gelegenheit, seine Erfindungsgabe zu zeigen und seinen Witz leuchten zu lassen. Oft haben Karagöz' Wortverdrehungen und Witze einen stark obszönen Charakter.
Der Orientale, besonders der der älteren Zeit, ist in diesen Dingen sehr viel weitherziger als der moderne Europäer und nimmt in sehr viel geringerem Grade an Anspielungen auf die primitivste und stärkste Lustquelle des menschlichen Trieblebens Anstoß als dieser. In alter Zeit wurden Obszönitäten zweifellos in noch viel weiterem Umfang auf die Schattenbühne gebracht, als die jetzige Form des Spieles ahnen läßt, auch scheint Karagöz häufig, wenn auch nicht immer, mit dem Phallus aufgetreten zu sein. Und in den Stücken sind die zweideutigen Wortspiele viel zahlreicher, als man beim oberflächlichen Lesen vermutet. Heute, wo das Schattenspiel meist vor Kindern gespielt wird, ist es ziemlich zahm.

So, wie wir sie kennen, konnte sich diese Kunst nur in einem sozialen Milieu entwickeln, wie es allein "in der Stadt" , in der Hauptstadt eines die verschiedensten ethnischen Gruppen umschließenden und beherrschenden Imperiums gegeben war. Schon "die Stadt" selbst barg und birgt in ihren Mauern in bunter Fülle Angehörige der verschiedensten völkischen Einheiten, deren Väter sich "im Schatten" das Padischah dort niedergelassen hatten, um im Schutz der osmanischen Macht ihren Beschäftigungen, ihren Gewerben nachzugehen. Dazu kamen häufig Besucher aus den Provinzen des mächtigen Reiches, aus dem Nachbarlande Iran, aus Arabien, ihrer sonderbaren Tracht und ihren fremden Sitten den Herren der Stadt, den Türken, wunderlich und komisch genug vorkommen mußten. Aber auch das Herrenvolk selbst wies eine reiche soziale Gliederung auf. Die Sphäre des Sarai, der Hofleute, der Janitscharen war eine merklich andere als die der Leute von der Medrese. Diese wiederum hoben sich ab von der Klasse der Handeltreibenden im Basar, der Handwerker und Zunftangehörigen. Alle diese Typen lebten dicht nebeneinander, und die Buntheit der Gesellschaft wurde noch gesteigert dadurch, daß viele Gewerbe traditionell den zum Teil aus den Provinzen neu einwandernden Angehörigen einer bestimmten ethnischen Gruppe vorbehalten waren:
Die Badeheizer, der Servierdiener im Konak, der Silberschmied waren Armenier, der Nachtwächter Kastamonier, der Milchspeisenverkäufer Bulgare oder Albaner, der Schankwirt Grieche usw. Dazu kam, daß die Konaks der vornehmen Herren mit tscherkessischen und schwarzen Sklaven und Sklavinnen bevölkert waren.
Diese buntgemischte Gesellschaft mußte für den spottlustigen Bewohner der Hauptstadt eine unerschöpfliche Quelle der Erheiterung sein. Es lag nahe, die verschiedenen Typen mit ihren Sonderbarkeiten komisch zu nehmen, ihre Sprachweise und ihr Benehmen zum Spaß nachzuahmen - so machten es die Meddahs - oder sie, leicht karikiert, in ein einfaches, dem Leben eines Istanbuler Stadtviertels entnommenes, dramatisches Geschehen verwickelt, in einer Reihe hintereinander oder nebeneinander auf die Schattenbühne zu bringen.
(nach Hellmut Ritter, Karagöz, Bände 1 - 3 - 1924, 1941, 1953)

Die Stücke

 

Salincak (Die Schaukel)
Hacivat besitzt eine Schaukel, wie man sie an Festtagen auf öffentlichen Plätzen aufzustellen pflegte und will damit Geld verdienen. Karagöz will ihm dabei zur Hand gehen. Obwohl Hacivat Zweifel an der geschäftlichen Zuverlässigkeit von Karagöz hat, willigt er ein. Karagöz beginnt, sich mit der Bedienung der Schaukel vertraut zu machen. Nach einigen mehr oder minder geglückten Probeversuchen erscheinen die ersten Kunden. Jedesmal, wenn Hacivat nun nachfragt, behauptet Karagöz, nichts eingenommen zu haben. Hacivat beobachtet die Szene heimlich und erscheint dann in einer Frauenverkleidung als Kunde. Er habe gehört, sagt er zu Karagöz, daß das Schaukeln umsonst sei. Daraufhin zählt Karagöz auf, was er alles eingenommen habe. Als sich dann die alte Frau als verkleideter Hacivat entpuppt, läßt er sich nicht weiter verblüffen und gibt vor, daß alles ein Scherz gewesen sei. Schließlich aber erwischt ihn Hacivat beim Geldzählen.

 

Kanli Nigàr (Die blutige Nigàr)
Kanli Nigàr trifft sich mit Çelebi ihrem Liebhaber und macht ihm eine Szene: er vernachlässige sie und sei nicht zu einem Rendez-vous erschienen. Sie ist eifersüchtig auf Salkim Inci, eine andere Kurtisane, und beschuldigt ihn, mit ihr ein Verhältnis zu haben. Salkim Inci erscheint, und die beiden Frauen sind sich bald einig darin, daß Çelebi ein Hallodri sei und verhauen ihn. Sie beschließen, eine Nachbarin als Schiedsrichterin dafür herbeizuholen, zu weicher von beiden Çelebi am besten passe. Als die herbeigeholte Dimyat Pirinci den jungen Mann für sich selbst reklamiert und Karagöz' Frau als zweite Richterin ebenfalls befindet, daß er am besten zu ihr selbst passe, entschließen sich die beiden Frauen, dem viel Umworbenen eine Lektion zu erteilen. Sie verprügeln ihn, ziehen ihn nackt aus und werfen ihn so auf die Straße.

 

Der nackte Çelebi bittet nun Karagöz inständig, ihm seine Kleider aus dem Haus zu holen, und verspricht ihm dafür ein Goldstück und seine goldene Uhr, die sich im Haus in seiner Tasche befinde. Karagöz aber ergeht es nun nicht anders als dem Çelebi - er wird verprügelt, ausgezogen und auf die Straße geworfen. Das gleiche Schicksal erleiden nacheinander Hacivat, der Sarhos (Trunkenbold), der Araber und der Zwerg Beheruhi; sie liegen dann alle nackt auf der Straße. Erst als der gefürchtete Zeybek erscheint, bezeugen die Frauen Respekt und geben ihm die Kleider der Nackten heraus.

 

Der Schattenspieler
Orhan Kurt, geboren 1930 in Istanbul, war von Beruf Bauingenieur gewesen. Er beschäftigte sich, außer mit dem Schattentheater, auch jahrzehntelang mit türkischer Kunstmusik und war als Sänger und Tanbur-Spieler tätig. Dieses Instrument baute er auch selber. Er ist als Fertiger von (nicht nur den eigenen) Schattenspielfiguren hervorgetreten. Seine Figuren befinden sich in deutschen, italienischen und japanischen Museen.


Spieler:           
Orhan Kurt
Hayret Kurt


Betreuung:                  
Merlyn Solakhan
Manfred Blank

 

Handzettel:                  
Merlyn Solakhan

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