Schattentheater der Welt


III. Bali: Wayang Kulit

Wayang Kulit aus Bali mit dem Dalang I. Wayan Wija
SCHATTENTHEATER AUS BALI 

Vorgeschichte:
Das hinduistische Epos Mahabharata schildert die Geschichte der fünf Pandawa-Brüder und der 100 Korawa-Brüder. Zunächst gemeinsam erzogen, entzweien sich die Vettern und die Pandawas werden für 13 Jahre aus dem Königreich Astina verbannt. Unter der Herrschaft der Korawas regieren Korruption und verräterische Machenschaften, während die Pandawa heimatlos die Wälder durchstreifen. Doch sie geben den Gedanken an die Bekämpfung der Korawas und die Rettung ihrer Heimat nicht auf.

1. Akt: Arjuna, der stärkste der Pandawa-Brüder, beschließt, zum Berg Indrakila Giri, dem höchsten Gipfel des Himalaya zu wandern, um sich dort der Meditation zu unterziehen. Arjuna wird begleitet von seinem Diener Tualen und dessen Sohn Merdah, doch Tualen ist traurig, weil er nun alles aufgeben soll, was das Leben lebenswert macht: gemütliche Betten, schmackhaftes Essen und schöne Musik.

Arjuna erklärt, daß er in der Meditation nicht persönliche Erlösung, sondern Kraft für die Rettung seines Landes sucht. Nur mit Hilfe des Gottes Siva könnte sein Versuch Aussicht auf Erfolg haben und Arjuna ist bereit, im Warten auf diese Hilfe den Rest seines Lebens zu verbringen.
Immer höher steigen sie in die Berge, und in einer Höhe läßt Arjuna sich schließlich zur Meditation nieder. Tualen und Merdah fällt es schwer, still sitzen zu bleiben, doch allmählich füllt die Höhle sich mit Licht und einem sanften Hauch, der die beiden einschlafen läßt.
Unterdessen herrscht in der Götterwelt Aufruhr, denn es will nicht gelingen, den mächtigen Dämon Niwatakawacha zu besiegen. Er droht, alle Götter zu zerstören, wenn ihm nicht die himmlische Nymphe Supraba zur Frau gegeben wird.
Der Hauch aus Arjunas Höhle erreicht Indra, den König der Götter, und bring ihn auf eine Idee: Vielleicht könnte ein menschliches Wesen mit reinem Herzen und ohne Makel den Dämon besiegen. Doch Indra kennt auch Arjunas Schwäche, die Frauen, und beschließt, Arjuna in Versuchung zu führen. Alle himmlischen Nymphen - unter ihnen auch Supraba - werden ausgeschickt, um Arjunas Meditation zu stören, doch Arjuna widersteht der Versuchung.

2. Akt: Delem und Sangut, Niwatakawachas Diener, unterhalten sich über den Plan ihres Herrn, die Nymphe Supraba zu heiraten, als dieser wütend auftritt; er hat die Nymphen zu Arjuna fliegen sehen und befiehlt seinem Minister Momosimoka, Arjuna auf der Stelle zu töten. Zusammen mit Delem und Sangut sucht Momosimoka ohne Erfolg nach Arjuna. Voller Wut verwandelt er sich in einen riesigen Eber und bringt die Erde zum Beben.

Siva steigt in Gestalt eines Jägers vom Himmel und schießt auf den Eber. Auch Arjuna hat seinen Pfeil auf das Tier angelegt, und im Fluge vereinen sich beide Pfeile und treffen Momosimoka tödlich. Siva will Arjunas Kraft prüfen und provoziert einen Streit um die Beute. Es kommt zum Kampf, doch dann offenbart Siva seine wahre Gestalt. Arjuna bereut seine Respektlosigkeit, aber Siva erklärt ihm, daß der Kampf seiner Stärkung gedient hat: bei jedem Zusammenstoß kam es zu einer Kraftübertragung von Siva auf Arjuna.


Schließlich bittet Siva Arjuna, Niwatakawacha zu töten. Arjuna ist glücklich, den Göttern dienen zu können, und Siva gibt ihm die mit übernatürlicher Kraft ausgestattete Waffe pasopari. Diese Waffe hat die Kraft, die Welt zu zerstören, nur Arjuna darf sie zur Hand nehmen, und auch das nur, wenn alle anderen Mittel versagt haben.

 

Wayang Kulit, Bali

Zweck und Funktion des Schattenspiels auf Bali - wie auch in anderen Ländern - war immer die Erziehung des Publikums. Gute und böse Eigenschaften der Menschen werden gezeigt, wobei das Gute immer über das Böse triumphiert - auch wenn das Böse nie vollständig niedergeworfen wird. Das Schattenspiel vereint Unterhaltung, Erziehung und Religion.
Das balinesische Schattenspiel stammt aus Java, mitgebracht von javanischen Hindus, die im 14. Jahrhundert vor dem aufkommenden Islam nach Bali flüchteten und ihre heiligen Bücher mitbrachten, in denen die alten Hindumythen Ramayana und Mahabharata geschrieben standen. Aber auch die javanische Tradition blieb in Bali nicht stehen - auf Bali entwickelt sich alles. Heute unterscheidet sich die balinesische Version des Wayang Kulit sehr von ihrem javanischen Vorgänger. Die in den heiligen Büchern festgelegten Regeln werden in jedem Dorf anders interpretiert und ausgeführt.


Vor allem werden Schattenspiele bei religiösen Ereignissen aufgeführt, zum Beispiel beim ersten Geburtstag eines Kindes, bei einer Zahnfeilzeremonie, einer Hochzeit, einer Feuerbestattung oder der Jubiläumsfeier eines Tempels. Jemand bestellt vielleicht ein Schattenspiel, weil ihm ein Wunsch erfüllt wurde oder wenn ein krankes Kind geheilt werden soll. Oder vielleicht nur, weil er gerne Schattenspiele sieht. In manchen Fällen ist (auch) eine Schattenspielaufführung vorgeschrieben, sei es bei einer Feuerbestattung oder um ein Kind zu reinigen, das an einem ungünstigen Tag geboren wurde. Es ist teuer - ein guter Dalang (Schattenspieler) bekommt viel Geld, von dem er aber seine Musiker und Assistenten bezahlen muß.
In verschiedenen Teilen Balis sind verschiedene Dalangs beliebt, und die Balinesen haben sehr ausgeprägte Ansichten, was ihre Lieblingsspieler angeht. Es gibt heute ungefähr 200 bis 300 Dalangs in Bali bei einer Bevölkerung von 2,5 Millionen Menschen, aber nur etwa 20 oder 30 sind aktiv.


Die Balinesen glauben, daß in jedem einzelnen Menschen die ganze Welt existiert. Ein guter Dalang muß alle Charaktere der von ihm gespielten Geschichte in sich selbst tragen, denn er führt und spricht alle Figuren. Er muß über 100 Geschichten kennen und immer mehr dazulernen. Er muß Kawi sprechen, eine ausgestorbene Sprache, in der die Geschichten niedergeschrieben sind, und er muß sie ins Hochbalinesische (die Sprache der Götter), Mittelbalinesische (die Sprache der Könige) und schließlich ins Niederbalinesische, die Sprache des gemeinen Volks, übersetzen können. Für alle diese Sprachen muß er als Vorbild gelten können. Dazu muß er jeder seiner Figuren eine ganz eigene Stimme und Sprachweise geben können, und - das wichtigste überhaupt - je nach aktueller Lage und Umgebung improvisieren, witzige oder scharfe Kommentare einbauen können, denn das ist es, was das Publikum eigentlich hören will.

Da die Geschichte hauptsächlich in Kawi erzählt wird und daher dem Publikum buchstäblich unverständlich ist, gibt es in jedem balinesischen Schattenspiel vier Clownfiguren, die für das Publikum in die Umgangssprache übersetzen. Sie sind die Vermittler des höheren Sinnes der Geschichte, liefern aber auch die komischen Zwischenspiele und Höhepunkte, oft in ausgesprochen grober Sprache. Interessanterweise kommen diese vier Übersetzer in den Hindu-Epen nicht vor.

Da der Dalang eine Art Priester ist, muß er die Riten und Gebete kennen, welche die Figuren für die Aufführung zum Leben erwecken und das Wasser heiligen, wenn die Gelegenheit es verlangt. Geheiligtes Wasser ist eines der wichtigsten Elemente des balinesischen Hinduismus und kann sowohl reinigen als auch das Böse austreiben. So wird das Wayang Kulit gleichzeitig zu einer Unterhaltungsshow, einem moralischen Lehrstück und einer religiösen Erfahrung.


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