Uliisses

"Wer sich selbst sein Leben erzählt oder sich das Leben eines anderen erzählen läßt, der wird an eine Lüge glauben müssen, wenn er dabei eine Einheit finden möchte. Die nämlich, die den Einzelnen zum Herrn seiner Erfahrungen macht, zum Mittelpunkt seiner Welt, über die er sich trotz allem erhaben weiß. Er wird hierin Homers Odyssee folgen, jenem Referenzmythos aller Mythen vom Schicksal der Personen. Er wird Odysseus sein wollen. Und wenn er es auch weniger erfolgreich ist als dieser, so wird er doch immerhin in eine kleine Geschichte verstrickt bleiben und sich sehnlichst wünschen, dann wenigstens auch die Not der andern erzählt zu bekommen.

Davon lebt das Kino der Spielfilme. Es experimentiert, türmt Schicksal auf Schicksal des immergleichen Abenteuers, das niemals wirklich fremd sein darf. Anstatt uns zu zeigen, daß es doch in Wahrheit ein Spiel der Sinne und der Realitäten ist, klammert es sich und uns ängstlich an die wichtigste List des Odysseus, die längst zur Dummheit geworden ist: die Trennung der Mittel vom Zweck, Trennung der Natur von ihrem Herrn, den Sichtbaren vom Sehenden.

Uliisses

Man sagt, wir seien nicht in der Lage, eine Geschichte zu genießen, wenn wir zugleich unübersehbar vor Augen hätten, daß sie reine Illusion von Wirklichkeit sei. Bleiben wir also darin gefangen zu glauben, die Geschichten lebten wie von selbst, es hätte nie eine Kamera, ein Drehbuch, ein Studio, ein Zelluloid gegeben? Oder wagen wir uns endlich in die Odyssee der Illusionen hinein, in eine neue Klugheit der Sinne, die, während sie einer fremden Geschichte folgen, auch die eigene erfahren wollen?

Nie waren bislang die Möglichkeiten dazu so zum Greifen nah, war die Reise der zukünftigen Kinematografie so mühelos und so faszinierend zu erleben wie in "Uliisses", der jüngsten Arbeit von Werner Nekes.

17 Jahre Praxis einer konsequenten Suche nach dem, was den anderen nur das funktionalisierbare "Medium" ihrer Geschichten ist, verschafften ihm im verordneten Ghetto des "Experimentalfilms" große internationale Anerkennung. Jetzt hat er es verstanden, den Spieß umzudrehen, nämlich zu erzählen wie die andern und doch die Literarisierung nur Hilfsmittel sein zu lassen für die eigentliche Attraktion des Kinos: die "Lichteratur", wie er es nennt, das Schreiben mit Licht." (Michael Kötz, Frankfurter Rundschau, 26.5.1983)

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