Kelek

Noch einen Schritt weiter geht Werner Nekes mit „Kelek“ der nicht die subjektive Perspektive des Filmmachers, sondern die im Kino Übliche Haltung des Zuschauers zum Thema hat. Zunächst erscheint der Film abstrakt, ohne jeden Sinn. Wir sehen den Gang durch einen Park, er endet mit dem Stand vor einem Gebüsch. Die Dramaturgie des Abenteuerfilms wird bemüht, Spannung erzeugt, doch es geschieht nichts. Danach, endlos lang, der Blick durch das Gitter (kelek, ein türkisches Wort heißt Floß, Gitter) einer Kellerwohnung.Wir selbst, die Zuschauer, die Voyeure, sitzen im Keller, hinter dem Gitter unserer Kinosehgewohnheiten, unserer üblichen Erwartungen. Endlich gehen Passanten über das Gitter, wechselt auch die Einstellung: von oben aufgenommene gehende oder auf einem Fahrrad fahrende Frauenbeine. Manchmal öffnet ein Bein die Wellenlinie eines Mantels oder Umhangs, manchmal schiebt sich eine Falte zwischen die Beine. Langsam wird der Einblick in eine Straße auf- und wieder abgeblendet; die optische Illusion läßt dabei die Gebäude, die einen Spalt am Himmel freilassen, auseinander und wieder zusammenrücken. Endlich der Geschlechtsakt selbst, durch die vorhergehenden Szenen vorbereitet; zwar auf Negativkopie, aber doch in aller wünschenswerten Deutlichkeit. War es bisher laut im Kino, singen viele hinaus, machten ihrem Ärger durch Zwischenrufe Luft, so ist es nun mucksmäuschenstill: ein Film über das Publikum und seine Verhaltensweisen. Den Ton der Vorführung nimmt Nekes auf Tonband und wertet ihn für weitere Filme aus.

Kelek002

Wiederholt wechselt die Sex-Szene mit der auf- und abblendenden Straße, in die Autos hineinfahren. Zwischendurch noch einmal das Gitter, nun mit einer hin- und herschwenkenden Kamera gefilmt: Wir wollen (und sollen!) aus dem Gefängnis unserer falschen Reaktionen und Schlüsse heraus, müssen uns von den Zwängen des gewohnten Kinos befreien. Am Schluß steht eine sehr lange, unbewegte Einstellung auf die Straße, in der wir das Gitter nun von oben sehen. Menschen gehen, Autos fahren, Kinder spielen und posieren vor der Kamera: Nach der Katharsis das ruhige, reine Hinsehen auf eine normale Straße. Man kann dem Film vorwerfen, er sei zu unverbindlich, zu esoterisch. Seine Kompliziertheit ist der Trick, so einfach zu sein. Wer hat schon die Muße, Bilder anzusehen ohne die Jagd nach einem Sinn, Bilder die gar nichts bedeuten, wer unterwirft sich der Tortur des einfachen Hinsehens, des Entdeckens von Schönheiten in ganz normalen, alltäglichen Bewegungsabläufen? Von solchen Filmen können alle lernen, die bösen Kinogänger wie die jungen Filmemacher. Aber die wollten nicht. In Mannheim buhten sie, wenn sie nicht schon vorher rausgegangen waren.

(aus: Wolf Donner: Gehacktes, Die Zeit, 17.10.1969)

zurück...