Makimono

IconGesamten Text von Christian Rittelmeyer als PDF herunterladen...

Vom Verschwinden der Bilder (in: Zwischenräume Jahrbuch für kunst- und kulturpädagogische Innovation, 1992)
Christian Rittelmeyer


Die Aufnahmen zu dem Film "Makimono" von Werner Nekes erfolgten von einem festen Standort aus-, der Film hat nur dessen Umgebung - Landschaft, Personen, Häuser - zum Gegenstand. Seine zunehmende Dynamik wird allein durch Schwenks, Bildüberlagerungen, Mehrfachbelichtungen, Einzelbildaufnahmen, Belichtungsvariation, Bildrhythmik und durch den Ton erreicht-, es gibt keine Fahrten, kein "Zoomen", keinen Standortwechsel. Das Zeichenrepertoire des gesamten Films, das zunächst noch so präsentiert wird, daß wir Landschaften, Häuser, Personen deuten können, wird durch die genannten Gestaltungsmittel zunehmend so arrangiert, daß sich der Eindruck fotografierter Realität verflüchtigt: die Zuschauer werden - behutsam, aber nachdrücklich - aufgefordert, ihre Wahrnehmungs- bzw. Deutungsfähigkeit kontinuierlich zu reorganisieren (Wahrnehmungen werden, wie man treffend zu sagen pflegt, gemacht. Sie kommen im Zuge des aktiven Sich-Aneignens von Wirklichkeit zustande und repräsentieren "Gestalten" oder "Strukturen", die aus der unendlichen Vielfalt von Sinnesreizen selektiv gewonnen werden). Makimono ist eine ästhetisch-didaktisch gestaltete Intervention gegen ritualisierte Deutungsmuster und die Zurückweisung des Films unter Berufung auf "richtige" Deutungsmuster kann nur als zwar handlungssichernde, nicht jedoch erkenntniskritische Attitüde verstanden werden (dies deutet die Berechtigung, aber auch den restaurativen Charakter solcher Zurückweisungen an). Die Intervention wird in und durch den Film auf eine doppelte Weise behandelt: Im Film zunächst als sukzessive Auflösung eines konventionellen Landschaftseindrucks (oder eines konventionell lesbaren Bildmaterials) in, eine vielfältig erlebbare Form-, Farb- und Klangarchitektur; durch den Film insofern, als sensibel registrierende Zuschauer bemerken werden, wie sie durch die ästhetische Transfiguration oder Metamorphose des Materials mehr und mehr auch auf das eigene Deutungsverhältnis zu dieser ästhetischen Objektwelt verwiesen werden, ohne daß der Film ihre Kreativität kanalisiert. Daß der Film sich mit diesen Mitteln als Produzenten von Sinn in Verpflichtung nimmt, denen Realität nicht mehr nur von ihnen abgesonderte Objektwelt, sondern als Resultat sinnstiftender Arbeit erscheint, daß Film den Zuschauer als - wie es Nietzsche a drückte - "künstlerisch schaffendes Subjekt" ernst nimmt, macht ihn im wahren Sinn des Wortes progressiv. Das sogenannte "Einlassen" auf den Film könnte, wo es in dieser produktiv-experimentellen Manier geschieht, ein erkenntniskritischer Akt sein, der rituelle Wahrnehmungsschemata erkennbar macht, nach deren Sinn oder Unsinn sich allerdings nur jeder selber fragen kann. Freilich geschieht dieses kritische Aufbrechen und Thematisieren in dem genannten Film ästhetisch, d. h. ohne aufklärenden und moralisierenden Zeigefinger.

Makimono 

Friedrich Schiller hat im 19. und 20. seiner "Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen" (1795) diesen ästhetischen Zustand als den einer "aktiven und realen Bestimmbarkeit" bezeichnet. Gemeint ist damit, auf unseren Zusammenhang bezogen, folgendes: Wir wachsen im Zuge unserer Sozialisation in ein Universum vorgegebener Begriffe, Weitdeutungen, Wahrnehmungsmuster herein. Das kleine Kind ist in dieser Hinsicht noch plastisch, es ist in einem Zustand der passiven Bestimmbarkeit: ein Stock kann noch vielerlei für es "bedeuten": Puppe, Gewehr, Auto, Schlagwerkzeug, Mutter usw. Mehr und mehr wird diese zunächst noch unbestimmte Gegenstandswelt durch das Kind bestimmt, teils passiv, indem Verwendungsformen und Bedeutungen dem Kinde "beigebracht" werden, teils aktiv, indem es selber durch sein Denkvermögen sich in diese vorgegebene Bedeutungswelt gleichsam hereinarbeitet. Auf diesem Wege kommt das Kind zu eindeutigen, entflexibilisierten Weltdeutungen, zu einer "bestimmten" Realitätsauffassung. Aber diese "Welt" hat es nicht selber gewählt, der Mensch muß daher, will er wiederum in ein freies, nun eigenaktives Interpretationsverhältnis zu den Dingen kommen, in der diese sich neu zeigen können und nicht bloß mit irgendeiner Willkür neu interpretiert werden, einerseits die Realität der "Welt" festhalten (sonst könnte er - ohne alle Begriffe, ohne "Realität" – nur in den Zustand der passiven Bestimmbarkeit des Säuglings zurückfallen). Andererseits muß er aber mit dieser Realität aktiv "spielen" und die Realität mit sich "spielen", d. h. sich vielfältig von ihr berühren lassen. Diesen Zustand der realen und aktiven Bestimmbarkeit nennt Schiller ästhetisch, ein solcher ästhetischer Zustand legt uns aber in unserer Weltwahrnehmung in keiner Weise fest, sondern setzt uns nur frei, aus der Magie der sozialisierten Begriffe und Codes zu neuen, nunmehr eigenaktiven Welterlebnissen zu kommen. In Wahrheit, so Schiller, muß jede wirklich eigenaktive Erkenntnis zunächst einen solchen Zustand der realen und aktiven Bestimmbarkeit durchlaufen, in dem die Wahrnehmungsdinge mit uns, und wir mit den Wahrnehmungsdingen spielen. Makimono, so denke ich, zeigt diesen Vorgang und provoziert ihn, wenn wir uns dafür nur offenhalten, der große Denker und Dichter hat das Nekes-Werk daher, ohne es zu ahnen, bereits vor 200 Jahren gefordert. Allerdings sind seine Überlegungen im Hinblick auf diesen Film sicher nicht so zu verstehen, daß uns Makimono neue Sichtweisen auf Landschaften nahelegt - das wäre keine ästhetische, sondern eine bloß didaktische Botschaft. Am Beispiel der - wenn man sich so ausdrücken darf - "Entwirklichung" der Landschaft verwirklicht der Film vielmehr ein im wahren Sinn des Wortes beeindruckendes, dennoch uns nicht bestimmendes Gebilde, das uns fragen läßt, was es zeigt und was es in uns provoziert.


zurück...