Von der Wunderscheibe zur Wirbelbüchse oder vom Thaumatrop zum Hurrycan 

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(Beitrag für das lnformationsblatt zum 9. Internationalen Forum des jungen Films. Berlin, 1979)

Unglaubwürdige Freunde versicherten mir, daß es Beobachter der Entwicklung des Babys "Filmsprache" in großer Anzahl gäbe. All diesen habe ich die große Freude mitzuteilen, daß es ein Fest des Sehens zu feiern gilt. Der Säugling ist kein Säugling mehr. Ein entscheidender technologischer Entwicklungsschub ist vollendet. Die Literatur, die Papierwindel des Films, wird nicht mehr benötigtWas im folgenden in der Verbalisierung manchem kompliziert erscheinen mag, ist auf der Leinwand zumeist mühelos und lustvoll erfahrbar. Es handelt sich um das Wesen der Filmsprache. Das zunächst Ausgeführte gilt für alles bisher Gefilmte, und es lohnt die Mühe, sich einmal klarzumachen, was da eigentlich passiert. In dieser kurzen Form kann ich vereinfacht sagen: Film benutzt die Trägheit des Auges, identische und nicht-identische Bildinhalte miteinander verschmelzen zu lassen. Die kleinste filmische Information ist die Verschmelzung zweier Bilder: ein Kine. Die Differenz zwischen den beiden Bildern bewegt sich zwischen einem Minimum und einem Maximum. Geringe minimale Differenzen (a1/a2) erzeugen in uns die Illusion von Bewegung - das gefilmte Objekt bewegt sich. Eine maximale Differenz (an/b1) ist die Stelle im üblichen Film, die man zur filmsprachlichen Artikulation zu nutzen vergißt, obwohl sie die größtmögliche filmische Information trägt. Filmbesprechungen gebrauchen hier den Begriff Montage. Begreift man Film aus informationstheoretischer Sicht, versteht man, daß jedes Kine eine Montage mit mehr oder weniger Information ist. Die permanente Montage ist richtig, doch unbrauchbar, da tautologisch. Die maximale Differenz überträgt eine Gestaltverschmelzung, nach dem Spielzeug auch Thaumatropeffekt benannt. Jede filmgrammatische Regel, jede bisherige Erweiterung der filmsprachlichen Artikulation läßt sich aus diesem Verständnis heraus im Kinemodell als veränderte Differenz auf seine Artikulationsleistung hin überprüfen.Des öfteren wende ich im Film "Hurrycan" eine von mir neu produzierte Filmtechnologie an. Ich benutze eine Maschinerie, die Zeit in Aufnahme- und Verschlußzeiten segmentiert. Bisher bediente man sich des Shutters innerhalb der Kamera für die Aufnahme eines Einzelbildes, ich benutze darüber hinaus ein weiteres Computer-gesteuertes Blendenshutter vor der Kamera (mit der Kamera eine verbundene Einheit bildend) zur Aufnahme und Nicht-Aufnahme einer festgelegten Bildzahl. Die belichtete Bildzahl nenne ich Kinefeld. Die unbelichteten Bildzahlen werden im zweiten, dritten, x-ten Durchlauf der Kamera belichtet, wobei die zuvor belichteten unbelichtet bleiben. Das mehrmalige Durchlaufen des Films durch dieselbe Kamera wurde bisher zur Mehrfachbelichtung angewandt, ich stelle jedoch hier einen einfach belichteten Film her, der aus unterschiedlichen Kinefeldern besteht. Zwei Voraussetzungen für die Kinefeldartikulation erscheinen wichtig: 1. Die Bildzahl in einem Kinefeld sollte sich zwischen 2 Minimum und etwa 12 Maximum bewegen. Wobei die obere Grenze eine subjektive ist, abhängig von der jeweiligen Leistungs-, Speicherungsfähigkeit des Kurz-Zeit-Gedächtnisses. 2. Das wiederholte Auftreten des gleichen visuellen Strangs oder der gleichen Einstellung über einen längeren Zeitraum hin.Der oben erwähnte Niveausprung für die Filmsprache in der Benutzung der Kinefeldartikulation ist im folgenden zu sehen. Hatten wir zuvor zur Analyse der Leistungsfähigkeit der Filmsprache Bilddifferenzen, so können wir jetzt auf höherer Ebene von Felddifferenzen sprechen. Analog erhalte ich minimale und maximale Felddifferenzen.Die minimale Felddifferenz (FA1/FA2) benutze ich zur Erzeugung "Filmischer Bewegung". (Nicht zu verwechseln mit der Bewegung des gefilmten Objekts). Sie tritt dann auf, wenn das gefilmte Objekt auf den unterschiedlichsten Kinefeldern in bestimmter Weise identisch ist. Es handelt sich um ein künstliches, nicht natürliches Bewegungssehen, das filmisch zu nennen ist. Wie z. B. das Mikroskop dem Auge bisher nicht Sichtbares sichtbar macht, so wird auch hier Film wie ein Instrument eingesetzt, dem Auge bisher verborgene Bewegungsformen durch filmsprachliche Artikulation zu enthüllen. Mit dem normalen Auge Nicht-Wahrnehmbares kann jetzt gesehen werden. (in wochenlangen Schnittarbeiten hatte ich in meinen frühen Filmen "Artikel" 1966, oder "jüm-jüm" 1967, diese Technik vorweggenommen. Wegen des immensen Arbeitsaufwandes sind aber kaum ähnliche Filme entstanden. Zur Untersuchung dieses Phänomens würde sich die elektronische Geschwindigkeit der Fernsehbildübertragung anbieten, leider sind die Verantwortlichen nicht an einer Erforschung ihres Mediums interessiert. Sie kümmern sich mehr um Einschaltzahlen).Maximale Kinefelddifferenzen FA1/FB1/FC1 etc, ermöglichen filmische Sinngebungen. Nebeneinander oder miteinander laufende visuelle Stränge können sich zu einem besseren Verständnis oder zur Analyse von gefilmter Umwelt verbinden, so daß ich fast geneigt bin, hier den Begriff "Filmwort" für möglich zu halten. Wie viele Analogien ist auch diese sicherlich falsch, birgt aber dennoch etwas Richtiges.
Wie man in der Musikgeschichte von Homophonie und Polyphonie spricht, so wird man jetzt auch von einem polyvisuellen Film sprechen können.
Die Computer-Filmtechnologie für den Film "Hurrycan" herzustellen, halfen mir Winfried Wolf und Herbert Jeschke. Wir benötigten dafür ca. 6 Monate. Die Dreharbeiten dauerten 6 Tage im Januar 1979. Die Darsteller sind Freunde und Bekannte aus Mülheim/Ruhr, die ihre Aktionen in den meisten Fällen selbst gewählt haben, die sich selbst spielen.
Es handelt sich um eine low-low-low Schuldenproduktion, ein weiterer Wahnsinnserfolg von Werner Nekes im ständigen Kampf gegen den weißen Hai, den Großvater Supermans.
Ein Film für die toten Augen der Filmkritik und die kommunalen Kinos, die ihr Publikum fürchten und es für dümmer halten, als es ist.
Eine dokumentarische Spielfilmkomödie über die Filmsprache, über die Filmgeschichte, über uns und unser Sehen. Werner Nekes

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