Werner Nekes: Spreng-Sätze zwischen den Kadern 

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(Zuerst erschienen in "Hamburger Filmgespräch IV", Hamburg 1972; hrsg. von der Hamburger Gesellschaft für Filmkunde.)

„Der lächerliche Irrtum ist nur zu bewundern, daß die Leute meinen - sie sprächen um der Dinge willen. Gerade das Eigentümliche der Sprache, daß sie sich bloß um sich selbst bekümmert, weiß keiner ... Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte, daß es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei - Sie machen eine Welt für sich aus - Sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll - eben darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnisspiel der Dinge". Novalis, Monolog 1798.
Sprache ist das auf Mitteilung geistiger Inhalte gerichtete Prinzip. Nach der phonetischen Sprache entwickelten sich die ideographische Schrift und die phonetische Schrift. Ebenso bildeten sich die Sprachen der Mathematik, der Musik und unter anderen auch die des Films. Zur Informationsübertragung benutzt der Filmmacher ein System optischer und akustischer Zeichen. Im folgenden beziehen sich die Überlegungen auf die visuelle Sprache, im wesentlichen sind diese aber auch auf die akustischen Zeichenmaterialien übertragbar. In erster Linie teilt der Film sich selbst mit, d. h. nicht der gefilmte Gegenstand teilt sich mit, sondern die in der Filmsprache begründete Möglichkeit der Abbildung des Gegenstandes. Zuerst muß der Betrachter das Wesen der Filmsprache verstehen, bevor er die zu übertragenden Informationen aufnehmen kann. Wie Sprache ein Ausdruck von Denken ist, so wird doch das Denken auch wieder durch die Sprachformen bestimmt. Wie Umweltwahrnehmung gestärkt oder auch geschwächt sein kann durch Sprachgebrauch oder Sehgewohnheiten, so ist darüber hinaus festzustellen, daß der Zugang zur Wirklichkeit nur einen Weg durch einen speziellen Fall von Sprache darstellt. Wie Benjamin Lee Whorf zu dem Ergebnis kommt, daß bedeutende Fortschritte wieder und wieder nur "gegen" die Sprache gewonnen werden, durch gewisse Veränderungen der Sprache, so beschreibt Philipp Frank Einsteins Relativität der Zeit als eine Reform in der Semantik und nicht in der Metaphysik. Die Naturwissenschaftler haben erkannt, daß nur neue Arten von Logiken ihnen angesichts der neuen großen Probleme weiterhelfen könnten, da die mechanische Denkweise an ihre Grenze gelangt ist. Für andere Denkfelder erklärte Apollinaire: "Unsere Intelligenz muß sich daran gewöhnen, synthetisch-ideographisch statt analytisch-diskursiv zu begreifen". Es bleibt zu überprüfen, inwieweit sich diese Forderung mit dem Bedürfnis nach chemischen Verbindungen statt mechanischen Verbindungen von Bildern deckt. Unter chemischer Bildverschmelzung wäre der Zusammenprall und das Zusammenspiel zweier aktiver Elemente des Films zu verstehen, die auf einer höheren Ebene ein ldeogramm bilden, ein Begriffszeichen, verbunden in einem Appell an das nicht durch das Wort gegangene Verständnis. Der Einfluß der Hieroglyphistik auf Eisensteins Montage-Theorie bedarf in diesem Zusammenhang keiner weiteren Erklärung.
Neben dem System "wie wird es gezeigt" muß das System "wie wird es verstanden" untersucht werden. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1927 "Zur Lage der russischen Filmkunst" von Walter Benjamin zeigt sich die Problematik: ". . . das wichtigste Publikum des russischen Kulturfilms sind die Bauern. Ihnen sucht man historische, politische, technische und hygienische Kenntnisse durch den Film näherzubringen ... Es hat sich beispielsweise gezeigt, daß ländliches Publikum nicht imstande ist, zwei simultane Handlungsreihen aufzufassen, wie jeder Film sie hundertfach enthält. Es folgt nur einer einzigen Bildreihe, die chronologisch ganz wie Moritaten-Bilder vor ihm abrollen muß". Aus einer anderen Perspektive gesehen heißt dies, daß der Fortschritt eines Mediums als abhängig davon zu sehen ist, inwieweit ältere Medien mit ihren unbewußt erlernten "Grammatiken" in ihm fortleben, wie z. B. im Film: Literatur, Theater, Malerei oder auch Moritaten. Oder warum macht das Fernsehen noch kein Fernsehen, sondern Filme; oder warum orientiert sich der Trickfilm vorwiegend am Spielfilm, ohne von seinen speziellen Möglichkeiten besonderen Gebrauch zu machen? Einer der Gründe für die zu langsame Zerstörung vorhandener Orientierungssysteme liegt im kommerziellen Aspekt, ein anderer darin, daß nicht begriffen wird, daß Film eben nicht nur auf der unbewußten Ebene erlernt werden kann, sondern schneller im Unterricht wie eine Fremdsprache oder Mathematik gelehrt werden kann. Unter Fremdsprachen wären für uns nicht die neuen indoeuropäischen Dialekte wie deutsch, französisch oder englisch zu verstehen, da die Denkmöglichkeiten wegen ihrer gemeinsamen Grundstrukturen zu verwandt sind, sondern z. B. die afrikanischen, indianischen oder sino-tibetanischen u. a, die auch ein Fremd-Denken vermitteln könnten.
Wie jung die Filmsprache und ihre Betrachtung ist, zeigt sich auch darin, daß man ihr bisher embryonales Stadium für eine Weltsprache hält, obwohl leicht einzusehen wäre, daß verschiedene Kulturformen unterschiedliche Begriffe von Bildern wie z. B. von einer Sonne ableiten müssen. Die Universalität gilt eventuell für einen einfallslosen "Dokumentarfilm" oder für den in alle Länder verkauften Kommerzfilm, der auf einer Artikulationsstufe steht, die zu vergleichen ist mit dem Erfolg des Bemühens, dem Schaf möglichst ähnlich blöken zu können. Analog zur Muttersprache wird sich kein Mutterfilm entwickeln können, weshalb man dem "Provinz"- und Amateur-Film größere Aufmerksamkeit widmen muß, sofern dieser die Chance nicht verstreichen läßt, sich frei vom kommerziellen Druck in nicht vorhersehbaren Bahnen zu entfalten. Dieser Film müßte gegen die Rotationsachse der eigenen, erlernten Identität gerichtet sein. Er könnte in relativer Unabhängigkeit über die "Veränderung" des Mediums das Denken der Rezipienten verändern. Seine Mittel zur strukturellen Erweiterung der Bildsprache wären Poly-Visualität, Bildcluster, die Kamerabewegung als eine durch Raumkoordinaten bestimmte zu begreifen, die Belastungsfähigkeit der Filmkader zu überprüfen, das Qualitätsniveau zu ändern wie z. B. durch Thermographie, um nur einige Punkte auszuführen. Sein Ziel ist die Umwandlung des Bildmaterials in Informationsenergie. Wie neue Formen der Filmsprache aufgebaut werden können und sollen, so ist jedoch auch gleichzeitig die Aufforderung impliziert, dieselben wieder zerstören zu können. Wider den tödlichen Akademismus: der Reproduktion des soeben Geschauten.
Sowie unendlich viel unterschiedliche filmische Zeichen herstellbar sind, so sind auch deren Beziehungen und Kombinationsmöglichkeiten untereinander unbegrenzt. Die Frage nach den Gesetzmäßigkeiten der Findung und Auswahl aus den statistischen Möglichkeiten als auch nach dem Verhältnis zwischen den schon benutzten Filmzeichen zu den noch unbekannten führt uns zur Grundlage unseres Denkens: zur Struktur des Gehirns. Ausgehend von der Erkenntnis, daß unser biochemisches Neuronennetz nur eine mögliche Grundlage für Denkvorgänge ist, können wir uns Geräte vorstellen, die unser Denken in vielleicht ähnlicher Weise beeinflussen können, wie z. B. unser Sehen durch optische Hilfsmittel wie Brillen, Mikroskope oder Teleobjektive etc. verbessert und erweitert wird. Ein analoges Tele- und Mikrodenken hätte andere Denk-Systematiken wie z. B. präzisere und verschieden arbeitende Abstraktions- und Differenzierungsvermögen zur Folge. Eine metanoetische Erweiterung der Filmsprache wäre daraus abzuleiten. Eine Wissenschaft der Filmsprache, die Filmik zu nennen sich anbietet, und eine aus ihr hervorgehende Metafilmik hätten jedoch zuvor viele Arbeitsfelder aufzuarbeiten.
Sowohl Bildaufnahmen als auch Projektion gab es schon lange, bevor es zur Findung dessen kam, das wir heute Film nennen. Die Grundlage der Kinematographie ist somit im wesentlichen auf die Lösung zweier technologischer Probleme zurückzuführen. Die zeitliche Differenz in der Aufnahme und die zeitliche Differenz in der Projektion zweier Bildkader waren zu verkürzen. Aus der Aufgabenstellung heraus überrascht es nicht, daß in den Anfängen eine Apparatur für beide Erfordernisse konstruiert und benutzt wurde. Rückschauend können wir uns die Frage stellen, ob vor der beschleunigten Aufnahme und Wiedergabe Film möglich gewesen wäre. In der Beantwortung stoßen wir auf die Schwierigkeit, das Element des Films, die kleinste filmische Einheit, bestimmen zu müssen. Wie läßt sich das Foto oder das Diapositiv vom Film abgrenzen?
Versucht man Foto- und Filmsignale mathematisch in Signaldimensionen darzustellen, so erhält man für das Foto zwei und für den Film drei Informationsparameter. Zu den beiden Ortskoordinaten x, y der flächenhaften Speicherung beim Foto kommt beim Film die Zeitkoordinate t hinzu. Die im wesentlichen zweidimensionale Quelle wird im Film zum Träger zeitlich verteilter Informationen. Ein Einzelbild allein kann deshalb kein Träger filmischer Information sein, es kann ein fotografisches Zeichen sein. Zwei Kader können zwei fotografische Zeichen sein oder sind erst jetzt ein filmisches Zeichen, die kleinste Einheit des Films, ein Filmelement. Wenn wir die kleinste Einheit der Filmsprache "Das Kine" nennen wollen, dann hätte die Kinelogie zur Aufgabe, das System und die Funktion der einzelnen Film-Elementgruppen zu untersuchen. Die Höhe der filmischen Information des Kine bestimmt sich aus der Differenz zwischen zwei Einzelkadern. Eine zeitlich geringe Differenz in der Aufnahmegeschwindigkeit führt über Normalgeschwindigkeit (24 B/Sek.) zur zeitlich größeren Differenz, zum Zeitraffer (konstante Projektionsgeschwindigkeit 24 B/Sek. vorausgesetzt). Vergrößert und verändert sich die zeitliche und örtliche Differenz darüber hinaus, dann wird aus der Bewegungstäuschung (deren Prinzip die übliche Informationsdifferenz in Filmen ist) ein Gestaltwandel oder eine Gestaltverschmelzung.
Nach dem von Dr. John Ayrton Paris um etwa 1827 erfundenen Spielzeug möchte ich diesen Vorgang Thaumatropeffekt nennen. Bei dem Spielzeug handelt es sich um eine Pappscheibe, die an zwei Fäden befestigt ist, und die auf Vor- und Rückseite zwei verschiedene Abbildungen zeigt. Zwirbelt man die Scheibe zwischen den Fingern in einer bestimmten Geschwindigkeit, dann verschmelzen die Bilder. z. B. ein Vogel auf der einen und ein Käfig auf der anderen Seite, zu einem Bildeindruck, nämlich zu einem Vogel, der in einem Käfig sitzt. Ein zum Bewegungssprung unterschiedlicher Gestaltsprung findet im Kopf des Rezipienten statt. Damit beantwortet sich die Frage, die weiter oben gestellt wurde, daß nämlich Film ohne beschleunigte Aufnahmegeschwindigkeit nur in der beschleunigten Projektion möglich gewesen wäre. Eine Zwölftelsekunde haben wir in jedem Film den Thaumatropeffekt an der Stelle, wo zwei verschiedene Szenen aneinandergeschnitten sind (bei 24 B/Sek.).
Die unterschiedliche Sprachfunktion dieses einen Kine bleibt meistens unbeobachtet, da die Wahrnehmung nicht auf die visuelle Sprache gerichtet ist, sondern literarisch, inhaltlich an der Oberfläche der großräumigen Spannungsabläufe fixiert ist. Dieses Filmverstehen verharrt in einem Stadium, das sich der Musik-Rezeption vergleichen läßt, in welcher der musikalischen Formsprache gegenüber nur solche Kategorien wie Freude, Schmerz oder Beschaulichkeit offen sind. Ein durch R. Buckminster Fuller aufgestelltes Fortschrittprinzip besagt "mehr durch weniger". Auf den Film bezogen würde es lauten: "maximale Information mit minimalem Bildaufwand, d. h. in möglichst geringer Bildzahl". Man findet die Tendenz der erheblichen Beschleunigung der Informationsübertragung in der Filmgeschichte wieder, vergleicht man einmal die langsam dahinfließende epische Erzählweise des Films in den historischen Anfängen bis hin zu den neuesten Filmen, unter denen der Werbespot vielleicht das deutlichste Beispiel dafür ist, wie sehr ökonomische Gründe die Bildsprache bestimmen können. Mit dem Ziel der größtmöglichen Produktinformation versucht der Spot, die ökonomischsten Bildfunktionen zu verwenden. Parallel zur Entwicklung der Filmsprache sei auf die Erlernung eines "schnelleren Sehens" angewiesen.
Allgemein läßt sich zum Kine folgern: Der Informationsgehalt eines Filmes ist desto größer, je geringer die Wahrscheinlichkeit einer Vorherbestimmung des folgenden Bildkaders oder je größer die Differenz zwischen zwei Filmbildern ist. Die Konsequenzen, die sich aus den Überlegungen um die Differenzbestimmung der Kine ergeben könnten, sind wahrscheinlich weiterreichend, als jetzt schon skizzierbar. Bildkader eins geht eine Artikulationsverbindung mit Filmkader zwei ein. Filmkader zwei aus dem ersten Kine geht aber seinerseits wieder eine Artikulationsverbindung mit Filmkader drei ein und bestimmt somit das erste und zweite Kine etc. Darüber hinaus bliebe die Relation zwischen dem ersten und dritten und weiteren Kadern zu untersuchen. Innerhalb des dynamischen Systems Film sind die Kine aktive Elemente, d. h. sie erleiden Einflüsse von anderen Elementen und üben ihrerseits Einfluß auf andere Elemente aus. Die funktionalen Kine sind durch Relationen verknüpft, die den Charakter informationeller Kopplung haben. Die Beziehungen zwischen den Kine und dem Gesamtsystem ließen sich durch eine Strukturmatrix darstellen, die zwischen den Funktionen der einzelnen Kine und der Funktion des Gesamtsystems vermittelt. Gegenüber der Erforschung der bewußten filmischen Spracheinheiten behandelt die Kinelogie die unbewußte Infrastruktur; filmische Komplexe werden in ihrer Abhängigkeit zu den Kine begriffen werden müssen. Die Arbeitsweisen, Funktionen und Beziehungen der Kine, ihre Häufigkeit, Rhythmen, Cluster in Relationen zu anderen zu bestimmenden Bildgruppen, ihre Gegensatzpaare, ihre relativen Dimensionen zueinander werden Strukturen erkennen und kinelogische Gesetze ableiten lassen. Ein weites, zu erarbeitendes Feld, das dringend der Untersuchung bedarf. Werner Nekes

 

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