Hayal - Ein Film über das türkische Schattentheater 
von Merlyn Solakan und Manfred Blank

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Land Bundesrepublik Deutschland
Türkei 1989/90
Produktion blankfilm Berlin
Istanbul Film Ajansi

Ein Film von Merlyn Solakhan und Manfred Blank

Kamera Martin Manz
2. Kamera Sabri Özaydin
Kameraassistenz Cem Kagan Uzunöz, Burak Buyan
Schnitt Merlyn Solakhan
Originalton Manfred Blank
Mischung Martin Steyer

Schattenspieler Hayali Orhan Kurt
(Kayik/Das Boot)
Hayali Safderi Metin Özlen
(Muhavere/Vorspiel)
Musiker Edip Sürgit (kanun)
Mustafa Karadeniz (klarnet)
Ruhi Sentartar (darbuka, tef)
Erzähler Andreas Tietze, Robert Anhegger,
Onat Kutlar, Cevat Çapan
Cin Baba Nejat Öznacar

Uraufführung 17. Februar 1991, Internationales
Forum des Jungen Films, Berlin

Format 16 mm Farbe
Länge 81 Minuten

Weltvertrieb blankfilm
Potsdamer Str. 116
1000 Berlin 30
Tel.: (030) 26 25 745

Gedreht 1989 (Istanbul) und 1990 (Hamburg). Hergestellt mit Mitteln der Hamburger und der Berliner Filmförderung.


Inhalt

- Ist es ein Film?
- 16 mm Farbe, 81 Minuten; 116 640 mal die Wahrheit; was sollte es also anderes sein als ein Film?
- Ist es ein Spielfilm? Ist es ein Dokumentarfilm?
- Es ist ein Theaterfilm, eine sitcom, ein Dokumentarfilm über verschiedene Gegenstände, ein Biopic und ein Musical.

Theaterfilm. Zwei der letzten Istanbuler Hayali/Schattenspieler, wie sie das Karagözspiel Kayik/Das Boot aufführen.

Situationskomödie. Sowohl in Karagöz' als auch in Hacivats Haus sind die Lebensmittel knapp geworden und, schlimmer als das, die beiden Ehemänner können dem Verlangen ihrer Frauen nach wertvollen Juwelen nicht entsprechen; die Frauen machen sich auf zum Hafen, um sich mit "richtigen" Männern einzulassen. Die armen Ehemänner raffen sich zu einem Broterwerb auf; sie wollen Passagiere befördern in einem abgetakelten Boot, das bei Hacivat herumliegt.

Dokumentarfilm über verschiedene Gewerbe. Metin Özlen schneidet das tasvir/die Figur eines Çelebi. Karagöz und Haycivat arbeiten als Fährleute am Goldenen Horn und am Bosporus. In einem Kaffeehaus in Besiktas wird Tee bereitet und serviert. Onat Kutlar und Cevat Çapan schildern die Organisationsformen der Schattenspielerzunft.

Biographischer Film. Leben und Werk des deutschen Orientalisten Hellmut Ritter, der den größten Teil seines Arbeitslebens in Istanbul zugebracht hat und dem wir fast alles verdanken, was wir heute über das Karagözspiel wissen.

Historischer Dokumentarfilm. Das türkische Schattentheater als Spiegel der Geschichte der großen Stadt, die zu zwei Kontinenten gehört, erzählt von Andreas Tietze und Robert Anhegger.

Musical. Der hayali und seine Musiker, wie sie elf traditionelle türkische Kunstlieder singen und spielen. Wie in jedem Karagözspiel.


Zu diesem Film

Über siebzig Jahre waren vergangen seit der Zeit, als der deutsche orientalistische Leutnant in Konstantinopel seine "Aufnahmen" gemacht hatte. Die Stadt hieß seit langem schon Istanbul, und wir bereiteten uns vor auf eine archäologische Expedition. Wo Ritter noch etwas hatte betreiben können, was zu der Zeit den Namen "oral history" noch nicht trug, würden wir vor Ruinen stehen oder vor ganz neuen Häusern, für welche die alten Säulen als vorgefundenes Baumaterial benutzt worden waren.
Aber war es nicht von Anfang an Archäologie gewesen, auf was wir abgezielt hatten? Die Erinnerung an das Kino der allerersten Zeit, daß es der niederen Kultur, dem Rummel, dem Jahrmarkt zugehört hatte und nicht der Kunst. Daß der literarische Realismus sein garstiges Haupt noch nicht erhoben hatte. Daß es eine öffentliche Darstellung der Lust am reinen Schwachsinn gab, gepaart mit einem Hang zur Destruktion und Chaotik. Die Idee also war, daß es hier ein ursprüngliches Kino gegeben hatte, bevor es das Kino gab. Vor der Entdeckung des Trägheitseffekts eine Form, die auf dem Vergnügen an bewegten transparenten Figuren basiert, die da nicht die Welt, sondern nur ein Viertel einer großen Stadt bedeuten wollten. Archäologie des Kinos.

Es ist blöd und kurzsichtig, das weiß man, das Auftauchen des Fernsehens in einem direkten Zusammenhang zu stellen mit dem Niedergang des Kinos; richtig ist aber vielleicht, daß die Formen, die sozusagen Ausdruck einer gesellschaftlichen Organisation sind, mit deren Umwälzung ihre privilegierte Stellung abtreten müssen.

Insofern, wie wir es bei Victor Hugo und Färber lesen können, tötet jenes dieses (dort der Buchdruck den Kathedralenbau). So hat, wie das Fernsehen das Kino, das Kino das Karagözspiel getötet.

Von dem sozialen Milieu, in dem das Karagözspiel allein entstehen konnte, kann - das versteht sich - siebzig Jahre nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches keine Rede mehr sein. Es bedarf eines sehr insistierenden Hinschauens, um eine Gesellschaftsform, die wir nicht mit dem angeblich von einem ehemaligen CDU-Generalsekretär in die Welt gebrachten Begriff besudeln möchten, noch in ihren letzten Ausläufern wahrzunehmen. Die Minderheiten, gleich welcher Provenienz, bestimmen nicht mehr das Erscheinungsbild der Stadt. Auch davon mußte gehandelt werden, weil das Karagözspiel, zu einer türkischen Nationalkunst umgeformt, in diesem Umformungsprozeß sich selber zum Verschwinden bringt.

Die Fähigkeit, das Spiel zu spielen, das Handwerk also, ist traditionell mündlich überliefert worden, von einer einzelnen Person einer anderen. Als Ritter 1918 in Konstantinopel seine Aufnahmen machte, beginnt die Eule ihren Flug und der Orientalist malt sein Bild grau in grau. Die Überlieferung wird dünner und dünner. Wir haben 1989 in lstanbul ein Karagözspiel - nach dem plötzlichen Tod von Nevzat Agikgöz, dem dieser Film gewidmet ist - nur noch aufnehmen können, indem wir die Fähigkeiten zweier Schattenspieler kombinierten: die Zungen- und Fingerfertigkeiten sowie das historische Bewußtsein Metin Öziens mit der großen Musikalität Orhan Kurts. So ist vielleicht, zu einem ersten und letzten Mal, noch etwas Ganzes zusammengekommen. Und so sind wir glücklich, daß herauskam, was der eine Sinn des Kinematographen ist - Festhalten des einen unwiederbringlichen Augenblicks. Übertrieben gesagt, bescheiden gesagt.

Manfred Blank, Merlyn Solakhan


Biographien

Merlyn Solakhan, geboren 1955 in Istanbul/Türkei; dort aufgewachsen. Seit 1979 in der BRD. 1980 - 1985 Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin.

Filme

1982 Igelbaum, 16 mm, 1 Min 27 Sek., Trickfilm
1983 Sehir (Die Stadt), 17 mm, 60 Min., mit Martin
Manz, Dokumentarfilm mit inszenierten Teilen
1984/85 Uhrwald, 16 mm, 45 Min., mit Martin Manz
1986 Tekerleme (Zungenbrecher), 16 mm, 75 Min.
Spielfilm (Forum 1986)
Die Streiche von Nasreddin Hoca, 16 mm,
5 Episoden à 3 Minuten, Schattentheater,
Gutenachtgeschichten für den SFB
1989/90 HAYAL
1990 Mit einem Bein in Deutschland geboren,
48 Min., Video, mit Ursula Dieterich und
jungen Berliner Türkinnen.

Manfred Blank, geb. 13.03.1949 in Rieste/Krs. Bersenbrück. 1968 Abitur in Osnabrück. 1968 - 1971 Studium der Theaterwissenschaft, Germanistik, Philosophie in München. Theaterarbeiten als Regisseur und Darsteller. 1971 - 1975 Studium an der HFF München.
Während des Studiums mehrere Spielfilme. 1977 - 1985 Arbeit als Tonmeister für mehr als dreißig Filme. Ab 1977 Filmsendungen und Dokumentarfilme für das Fernsehen und das Kino. 1978 - 1985 Autor und Redakteur der Zeitschrift "Filmkritik". 1985 - 1989 Dozent für Regie an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin.

Filme (u.a.)

1975 Sieben Erzählungen aus der Vorgeschichte
der Menschheit (Forum 1975)
1976 Stadt & Land & soweiter, Abschlußfilm
1977 Inthronisation und Sturz. Über Robert
Bresson
1981 Michelangelo Antonioni: Chronik einer
Liebe - Sonnenfinsternis
1983 Leuchtturm des Chaos (Forum 1983)
1988 Kinostadt Paris
1989/90 HAYAL



Herausgeber: Internationales Forum des Jungen Films/Freunde der Deutschen Kinomathek, 1000 Berlin 30 (Kino Arsenal)
 
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